Am Erker 72

Regina Nössler: Endlich daheim

Melanie Raabe: Die Wahrheit

Kai Hensel: Bist du glücklich?

Horst Eckert: Wolfsspinne

Max Bronski: Der Pygmäe von Obergiesing

 
Mord & Totschlag 72
Die Krimi-Kolumne von Joachim Feldmann
 

Dass ihre Umgebung sie für seltsam hält, daran ist die 14-jährige Kim gewöhnt. Es gibt auch gute Gründe dafür. Aber verrückt ist sie deswegen noch lange nicht. Oder doch? Wie sonst ließe es sich erklären, dass ihr Hausschlüssel nicht mehr passt und auf dem Klingelschild lauter fremde Namen stehen? Regina Nösslers neuer Thriller Endlich daheim erzählt auf subtile Weise von einer nachhaltigen Verstörung. Nun sind die Identitätskrisen pubertierender Jugendlicher nichts Ungewöhnliches, doch in diesem Fall leistet eine feindselige Realität ihren Beitrag. Wir begleiten Kim auf ihrer Irrfahrt durch Berlin, ohne der Lösung des Rätsels sehr viel näher zu kommen. Erzählpassagen aus der Sicht anderer Figuren erhöhen die Spannung. Wenn sich der Fall am Ende des Romans doch aufklärt, ist man beinahe ein wenig enttäuscht. Gegenüber der Erfahrungswelt der jungen Protagonistin wirkt die nachgereichte Mordgeschichte wie ein Versatzstück aus einem anderen, erheblich banaleren Genreroman.
Und eben das scheint mir ein grundsätzliches Problem sogenannter Psychothriller zu sein. Mit erheblichem erzählerischem Aufwand wird eine existenzbedrohende Fremdheitserfahrung geschildert, die zum Ende hin halbwegs rational erklärt werden muss. Melanie Raabe, die mit ihrem Debütroman Die Falle zur Bestsellerautorin wurde, variiert zu diesem Zweck in ihrem neuen Buch ein bewährtes Handlungsmuster: Ein Geschäftsmann verschwindet auf mysteriöse Weise. Dass er nach Jahren wieder auftaucht, ist für seine Ehefrau ein kleiner Schock. Dieser wird zum blanken Entsetzen, als sich der Heimkehrer als Fremder entpuppt und jeder Versuch, den Hochstapler zu entlarven, scheitert. Selbstredend trägt die Protagonistin eines dieser genrespezifischen schrecklichen Geheimnisse mit sich herum, von dem sie uns, obwohl sie als Erzählerin auftritt, erst spät in Kenntnis setzt. Auch der Fremde kommt zu Wort, zeigt sich aber ähnlich ökonomisch mit der "Wahrheit" - womit wir beim Titel dieser gelegentlich arg konstruiert wirkenden Spannungsprosa angelangt sind.
Auf Existenzielles verweist auch der Titel des Romans, mit dem Kai Hensel nach zwei beeindruckenden Politthrillern neues Terrain betritt. Bist du glücklich? lautet die Frage, bei der es sich zunächst einmal nur um den Namen eines global erfolgreichen Computerspiels handelt, das seinem Schöpfer ein Luxusleben ermöglicht. Man diniert nicht im besten, aber im teuersten veganen Restaurant der Hauptstadt. Und es macht auch nichts, wenn man für das burgunderrote Mercedes Cabrio von 1962 ein paar Tausender zu viel bezahlt hat. Patrick heißt der erfolgreiche junge Mann, der die Lifestyle-Journalistin Laura so nachdrücklich beeindruckt hat, dass sie sich ein gemeinsames Leben mit ihm vorstellen kann. Und zwar in einem Schloss in der Uckermark, das die beiden renovieren wollen. Der Wochenendausflug zum frisch erworbenen Eigentum wird zum Horrortrip. Denn die Wahrheit, nach der es die zunehmend verunsicherte Laura verlangt, ist im wahrsten Sinne des Wortes blutig. Kai Hensels bitterböse Attacke auf die digitalisierte Scheinwelt geizt nicht mit Schockeffekten. William Goldings zivilisationskritische Dystopie Herr der Fliegen kommt in den Sinn, aber auch die Horrorgeschichten eines Clive Barker. Doch allen vermuteten oder tatsächlichen literarhistorischen Reminiszenzen zum Trotz ist Hensels Roman im besten Sinne gegenwärtig. Ausgerechnet Laura, die am Ende zur radikalkapitalistischen Esoterikerin mutiert und das hohe Lied von der Lüge als reiner Wahrheit singt, wird zum Instrument einer Gesellschaftskritik, die Adornos Diktum vom "universalen Verblendungszusammenhang" auf grimmig-komische Weise aktualisiert. Kai Hensel zeigt die leider oft unterschätzten ästhetischen Möglichkeiten von Genreliteratur auf überzeugende Weise.
Politische Aufklärung im klassischen Sinne ist seit jeher das Metier des Autors Horst Eckert. Seine Fiktion setzt an, wo die Auskunftsfreude der Presseabteilungen an ihre Grenzen gerät. Um die, verharmlosend formuliert, "Ungereimtheiten" in den öffentlichen Verlautbarungen über die "NSU-Morde" geht es in Eckerts neuem Roman Wolfsspinne. Hauptkommissar Vincent Veih von der Düsseldorfer Kripo, der hier zum dritten Mal in einen brisanten Fall verwickelt wird, soll eigentlich den Mord an der Betreiberin eines Luxusrestaurants aufklären, deren Verbindungen zum organisierten Drogenhandel nicht lange verborgen bleiben. In dieser Szene ist ausgerechnet ein entfernter Verwandter Veihs als verdeckter Ermittler tätig, der zuvor jahrelang für den Thüringer Verfassungsschutz den so genannten "Nationalsozialistischen Untergrund" ausspioniert hat. Sauber bleibt man nicht dabei. Auch das ist ein Grund, weshalb Ronny Vogt sein Wissen um die Wahrheit für sich behalten muss.
Wie gewohnt gelingt es Horst Eckert mühelos, die unterschiedlichen Handlungsfäden miteinander zu verknüpfen. Dabei bleibt er ganz nah am Zeitgeschehen, und es fällt nicht schwer, reale Figuren im fiktionalen Gewand zu identifizieren. Für seinen Protagonisten Vincent Veih allerdings wird die deutsche Nachkriegsgeschichte immer mehr zur biografischen Last. Sollte sich bestätigen, was der Roman über die Identität seines bislang anonym gebliebenen Vaters durchblicken lässt, verdient der Sohn einer ehemaligen RAF-Terroristin und Enkel eines Nazi-Kriegsverbrechers noch mehr als bislang schon unser Mitgefühl.
Alltäglichere Sorgen plagen Wilhelm Gossec, im Zivilberuf Altwarenhändler im Münchner Schlachthofviertel. Freundin Emma ist auf und davon, und der verlassene Amateurschnüffler suhlt sich in wohlfeilem Selbstmitleid. Glücklicherweise ist Ablenkung nicht fern, denn der Weg von der Kneipe nach Hause endet vorerst im Polizeigewahrsam. Das passiert, wenn man außer über Gerechtigkeitsgefühl auch noch über eine große Klappe verfügt. Bis ein Mord geschieht, um dessen Aufklärung Gossec sich bemühen darf, dauert es allerdings noch eine Weile.
Das ist auch nicht weiter schlimm, schließlich steht der - wenig originelle - Fall nicht im Mittelpunkt der Handlung. Immobilienhaie, die über Leichen gehen, gehören schließlich zum Standardpersonal deutscher Kriminalromane, zumal wenn sie in München spielen. Von Gossec lässt sich das zum Glück nicht sagen. Max Bronskis bayerische Variante des klassischen taffen Ermittlers überzeugt nämlich nicht nur als Figur, sondern auch als Erzähler, der seine Abenteuer mit Wortwitz und Selbstironie präsentiert. Das muss er auch, ist er doch der Überzeugung, das Leben selbst bringe "nur Schmerz" und wolle "immer wieder neu ausgekämpft werden". Unserem Vergnügen, Zeugen eben dieses Kampfes zu sein, tut das keinen Abbruch.

 

Regina Nössler: Endlich daheim. Thriller. 316 Seiten. Konkursbuch. Tübingen 2016. € 10,90.

Melanie Raabe: Die Wahrheit. Thriller. 441 Seiten. btb. München 2016. € 16,00.

Kai Hensel: Bist du glücklich? Thriller. 332 Seiten. Hoffmann und Campe. Hamburg 2016. € 20,00.

Horst Eckert: Wolfsspinne. Thriller. 489 Seiten. Wunderlich. Reinbek 2016. € 19,95.

Max Bronski: Der Pygmäe von Obergiesing. Kriminalroman. 164 Seiten. Kunstmann. München 2016. € 15,50.