Darf man eine gut fünfhundert Seiten umfassende
Literaturgeschichte danach beurteilen, wie sie mit einem für
etablierte Wissenschaftler noch immer abseitigen Genre umgeht?
Gemeint ist natürlich der Kriminalroman, dem die Münchner
Anglistin Ina Schabert in ihrer Englischen
Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts folgende Zeilen widmet:
"Auch andere Genres werden feministisch reinterpretiert:
der Detektivroman (vor allem Sara Paretsky in den USA, in England
unter anderen P.D. James, Elizabeth George und Joan Smith),..."
Richtig gelesen, das war's schon. Nun muss man wissen, dass
es sich nicht um eine herkömmliche Literaturgeschichte handelt,
sondern um eine "neue Darstellung aus der Sicht der Geschlechterforschung".
Das entschuldigt natürlich manches, beispielsweise Sätze
wie: "Die besondere Nähe der Frau zum Semiotischen wird
positiv gesehen und mit der Möglichkeit eines anderen Schreibens
verknüpft." Dass aber ausgerechnet die konservative
P. D. James, die mit dem Amateur-Lyriker Adam Dalgliesh einen
wahren Traummann ermitteln lässt, des Feminismus überführt
wird, ist schon fahrlässig. Kriminell wird es beim Fall Elizabeth
George. Deren klischeebeladene Schmöker spielen zwar in einem
Phantasie-England, doch die Autorin selbst ist Amerikanerin. Mit
gleichem Recht dürfte Donna Leon in einer Geschichte der
italienischen Literatur auftauchen. Und um die Eingangsfrage zu
beantworten: Man darf nicht nur, man muss es sogar. Wer nämlich
bei Kleinigkeiten zu schlampig recherchierten Pauschalurteilen
neigt, dem ist schon gar nicht zu trauen, wenn es um die großen
Dinge geht.
Aber es kommt auch Erfreuliches aus dem Süden Deutschlands,
die neuen Krimis aus dem Münchner Kunstmann-Verlag nämlich.
Da ist zunächst einmal Anne Chaplet,
die den jüngsten Einsatz ihrer Staatsanwältin Karen
Stark als eine weitere Variante des momentan beliebten "Schatten-der-Vergangenheit"-Romans
konzipiert hat. Junge Menschen, die Anfang der achtziger Jahre
des vergangenen Jahrhunderts noch voll Idealismus für eine
bessere Welt kämpfen wollten, sind ein Vierteljahrhundert
später vor allem gründlich desillusioniert. Dann stirbt
einer von ihnen, und wie man sich denken kann, ist des Rätsels
Lösung Teil einer alten Geschichte, an die sich die damals
Beteiligten lieber nicht erinnern mögen. Das hilft ihnen
aber wenig, denn sie werden einer nach dem anderen umgebracht.
Nicht gerade originell.
Dass man Chaplets Roman dennoch gerne liest, verdankt sich dem
souveränen Umgang der Autorin mit ihrem Stoff. Geschickt
und spannungsfördernd setzt sie die Figurenperspektive zur
Strukturierung der erzählten Handlung ein, ohne dabei den
Faden zu verlieren. Das ist gelungenes Krimi-Handwerk. Für
den literarischen Mehrwert allerdings sorgt die Nebenhandlung.
Die Geschichte der unfreiwilligen Wohngemeinschaft, die einer
der Protagonisten mit seinem alten Vater eingeht, ist komisch
und anrührend zugleich.
Die Macht familiärer Bande lernt auch der Trödelladenbesitzer
Wilhelm Gossec kennen, als er sich auf die Suche nach Pia, der
Tochter seiner ehemaligen Freundin, macht. Die hat eine Zeitlang
in der Musikszene mitgemischt, ist aber dann in ein noch erheblich
gemeineres Milieu abgerutscht. Gossec ist ein harter Bursche,
und das muss er auch sein, denn die Suche führt ihn mitten
in die Auseinandersetzung rivalisierender Gangster-Clans. Zumindest
sieht es danach aus. Aber zum Vergnügen am Krimi-Erstling
des Münchener Autors Max Bronski
trägt nicht zuletzt bei, dass längst nicht alles so
ist, wie es scheint.
Sister Sox ist ein schneller kleiner Roman, dem ein grelles
Kartoncover besser zu Gesicht stehen würde als der hübsche
Schutzumschlag, mit dem ihn das Haus Kunstmann versehen hat. Das
ist als Kompliment zu verstehen. Dieser schnoddrig und selbstironisch
erzählte Reißer steht haushoch über dem deutschen
Krimidurchschnitt.
Und dem skandinavischen wahrscheinlich auch. Jetzt ist der Grafit-Verlag
auf der Suche nach hierzulande bislang unentdeckten schreibenden
Nordeuropäern bis zu den Färöer-Inseln vorgedrungen,
stieß dort auf den bereits 1990 im Original erschienenen
ersten Krimi von Jógvan Isaksen
und hat die durchsichtige Story um alte Nazis und einen versunkenen
Goldschatz aus dem Zweiten Weltkrieg sofort ins Deutsche übersetzen
lassen. Den Spannungsgrad des Buches mag man daran bemessen, dass
ich bis eben der festen Überzeugung war, es sei mindestens
400 Seiten stark. Wie die Erinnerung täuschen kann. Es sind
nur 252.
Sehr lang kann einem auch die Lektüre des neuen Romans von
Bernhard Schlink werden. In gewissem
Sinne kann man Die Heimkehr durchaus als eine Art Detektivgeschichte
verstehen. Peter Debauer, die Hauptfigur des Buches, klärt
die Geschichte seiner Herkunft und trifft dabei auf einen gewissenlosen
Superschurken, nämlich seinen lange tot geglaubten Vater.
Das geht natürlich nicht von heute auf morgen, deshalb hat
Schlink die Gelegenheit, seinen Protagonisten sehr viel erzählen
und räsonieren zu lassen. Man gewöhnt sich regelrecht
an die leicht melancholische, nie unangenehme Stimme Debauers,
kann aber das rechte Interesse an dem Mann und seinem Schicksal
nicht entwickeln. Dabei geht es wirklich um die großen Themen
des grässlichen 20. Jahrhunderts. Aber das ist es gerade.
Vielleicht kennt man schon zu viele wahre und erfundene Geschichten
von Nazis, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit einer
neuen Identität versehen haben, als dass man nun einen weiteren
Roman zum Thema lesen möchte, selbst wenn dieser wie Schlinks
Buch gleichzeitig entscheidende Fragen von Recht und Moral verhandelt.
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: Englische
Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Eine neue Darstellung
aus der Sicht der Geschlechterforschung. 597 Seiten. Kröner.
Stuttgart 2006. € 25,00.
: Sauberer
Abgang. Roman. 288 Seiten. Kunstmann. München 2006.
€ 19,90.
: Sister
Sox. Roman. 191 Seiten. Kunstmann. München 2006. €
16,90.
: Endstation
Färöer. Roman. Aus dem Dänischen von Christel
Hildebrandt. 252 Seiten. Grafit. Dortmund 2006. € 8,95.
: Die
Heimkehr. Roman. 375 Seiten. Diogenes. Zürich 2006.
€ 19,90.
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