Vor einiger Zeit äußerte sich die
durch ihre Venedig-Romane um den edlen Commisario Brunetti zu
einigem Ruhm gelangte amerikanische Autorin Donna Leon in der
International Herald Tribune über ihre Arbeit. Sie
finde es geradezu lächerlich, wenn sich Literaturwissenschaftler
ernsthaft mit Kriminalromanen beschäftigen würden. Krimis
zu verfassen sei schließlich keine Kunst, sondern Handwerk.
Ohne nun diskutieren zu wollen, wo da die genaue Grenze zu ziehen
wäre, ist eine solche Einstellung zu begrüßen.
Der literarische Anspruch mag den Autor adeln, dem Kriminalroman
tut er oft gar nicht gut. Wer sich selbst davon überzeugen
möchte, sollte Nachtfahrt, das mittlerweile zwei Jahre
alte Debüt Jan Costin Wagners,
lesen. Dieses eitle Selbstporträt eines Mörders als
amoralischer Künstler gibt sich so finster, dass es beinahe
schon komisch ist. Für Motivforscher würde sich übrigens
der Vergleich mit Daniel Kehlmanns Erfolgsroman Kaminski und
ich (Suhrkamp, kein Krimi) lohnen.
Aber zurück zu den Handwerkern. Einer der fleißigsten
unter ihnen ist der Brite Andrew Taylor.
Vor mehr als zwanzig Jahren debütierte er mit Caroline
Miniscule, einer leicht grotesken Mordgeschichte um einen
verborgenen Schatz. Mittendrin steckt, zunächst wider Willen,
der charmante William Dougal, ein junger Mann von außergewöhnlichen
Fähigkeiten. Diese waren ihm selbst allerdings unbekannt,
bis er Professor Gumper, der Dougals Dissertation über frühmittelalterliche
lateinische Texte betreut, ermordet in dessen Arbeitszimmer auffindet
und sich aus unerfindlichen Gründen entschließt, nicht
die Polizei zu rufen. Schon bald gibt es mehr Tote, und für
manche Leiche trägt sogar unser Held die Verantwortung. William
Dougals Verwandtschaft mit Patricia Highsmiths berühmtem
Mörder Tom Ripley ist in diesem ersten Roman nicht zu übersehen,
doch da Andrew Taylor ihn noch in sieben weitere Abenteuer verwickelt,
hat er genügend Zeit, ein eigenständiges Profil zu entwickeln.
Leider sind die Dougal-Romane auch im Original nur antiquarisch
zu beschaffen, ins Deutsche übersetzt wurden sie meines Wissens
nie. Es würde sich lohnen.
Aber Andrew Taylor ist nicht nur fleißig, sondern auch vielseitig.
In seiner Lydmouth-Serie gelingt ihm ein authentisches Porträt
einer englischen Kleinstadt in den fünfziger Jahren, und
die Trilogie Requiem for an Angel ist das erzähltechnische
Meisterstück eines Kriminalromans mit umgekehrter Chronologie.
Diese Geschichte einer mörderischen Familienkatastrophe beginnt
in den neunziger Jahren, um von dort in archäologischer Manier
die Jahrzehnte zurückliegenden Hintergründe zu erhellen.
Dabei ist jeder Band der Trilogie auch für sich lesbar. Obwohl
Andrew Taylor (die Lydmouth-Romane allerdings nicht komplett und
in veränderter Reihenfolge) schon lange in deutscher Übersetzung
vorliegt - bei Goldmann und bei Zsolnay -, ist er für hiesige
Leser noch immer zu entdecken.
Dass das Vergangene nicht vergehen will, davon weiß fast
alle Detektivliteratur. Wenn Hercule Poirot oder Nero Wolfe zum
guten Ende alle Verdächtigen versammeln, kommt nicht nur
die Gelegenheit zur Sprache, sondern eben auch das plausible Motiv.
Und das kann eine sehr lange Geschichte haben. In Anne
Chaplets neuem Roman Schneesterben ist es mehr als
zwei Jahrzehnte her, dass ein kleiner Junge von zwei wenig Älteren
auf grausame Weise umgebracht wurde. Aber noch immer hat dieses
unerhörte Ereignis die Kraft, Leben zu zerstören. Und
kein souveräner Ermittler weit und breit, der das Geheimnis
zur Zufriedenheit der Überlebenden lüften würde,
im Gegenteil. Jeder weiß ein bisschen, und als am Ende ein
Täter präsentiert wird, bleibt Beklemmung. Übrigens
auch beim Leser, der noch am meisten mitbekommt und bei richtiger
Deutung aller Hinweise schon bald des Rätsels Lösung
ahnt.
Doch das mindert die Spannung, die von diesem Buch, nicht zuletzt
dank seiner multiperspektivischen Erzählkonstruktion, ausgeht,
überhaupt nicht. Schneesterben hält, was die
vorhergehenden vier Romane der Frankfurter Autorin Cora Stephan
unter dem Pseudonym Anne Chaplet versprachen. Es gibt in Deutschland
Kriminalliteratur, sogar solche, die in der tiefsten hessischen
Provinz spielt, die sich im internationalen Vergleich ohne weiteres
behaupten kann. Und das ist vor allem eine Frage des Handwerks.
Dieses beherrscht übrigens auch ein Autor vortrefflich, der
Ihrem Kolumnisten bislang entgangen ist. Der frühere Zeit-Redakteur
Horst Bieber hat laut Verlagsinformation
bislang vierzehn Krimis geschrieben, und wenn alle so amüsant
und spannend sind wie die just erschienene Detektivstory Beas
Beute, ist solche Ignoranz sträflich. Rolf Kramer ist
ein sympathischer Privat-Ermittler, der sich zu behaupten weiß.
Kein Supermann, aber einer, der sich auf das versteht, was er
tut. Während in vergleichbaren Krimis in der Regel mindestens
ein Kapitel darauf verwendet wird, den übel verprügelten
Detektiv beim Kampf mit dem Schmerz zu zeigen, bleibt Kramer frei
von Blessuren. Bösartiger Messerstecher und tückischer
Blondinen erwehrt er sich mit der gleichen ironischen Eleganz.
Und manchmal erteilt er sogar dem Konkurrenzpersonal kostenlose
Nachhilfe in praktischer Detektivarbeit. Dass Kramer außerdem
den komplizierten Fall um Betrug, Raub und Mord zufriedenstellend
löst, versteht sich von selbst. Im Vergleich mit Anne Chaplets
mindestens viergängigem Menü serviert Horst Bieber zugegeben
leichte Kost. Aber auch deren Zubereitung will gelernt sein, damit
wie in diesem Fall ein Lesegenuss ohne Reue draus wird.
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: Nachtfahrt.
Roman. 217 Seiten. Eichborn. Frankfurt am Main 2002. € 17,90.
: Verblühte
Rosen. Roman. Aus dem Englischen von Ute Thiemann. 416
Seiten. Goldmann. München 2002. € 8,90. (Lydmouth-Serie)
Die vier letzten Dinge. Roman. Aus dem
Englischen von Renate Orth-Guttmann. 384 Seiten. Goldmann. München
2002. € 9,00.
Das Recht des Fremdlings. Roman. Aus
dem Englischen von Sonja Hauser. 409 Seiten. Goldmann. München
2002. € 8,90.
Eine Messe für die Toten. Roman.
Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann. 400 Seiten. Zsolnay.
München & Wien 2002. € 21,50.
: Schneesterben.
Roman. 316 Seiten. Antje Kunstmann. München 2003. €
19,00.
: Beas
Beute. Krimi. 263 Seiten. Grafit. Dortmund 2003. €
8,90.
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