Liebend gerne gehörte ich, wenigstens einen Moment lang, zu Deutschlands einflussreichsten Kritikern. Immer wieder sage ich mir diesen Satz vor, während ich mit Handfeger und Kehrblech die Abfälle der gestrigen Bastelarbeiten vom Boden meiner Werkstatt entferne. Dabei ist meine Absicht allerdings nicht, wie manch einer vermuten könnte, das Schicksal zu beschwören, auf dass es mich für einen Augenblick unverdienten Glücks von meiner bescheidenen Existenz erlösen möge. Vielmehr erschien mir der Satz als ein gelungener Einstieg in diese Kolumne, vermittelt er doch den Eindruck rückhaltloser Ehrlichkeit. Ob man einer solchen Rolle überhaupt gerecht werden kann, frage ich mich seit gestern. Da las ich mit großem Vergnügen die Erinnerungen des Direktors des Deutschen Literaturarchivs, Ulrich Raulff, den sein Verlag einen der "einflussreichsten Intellektuellen" des Landes nennt. Welche Strategie zu diesem hehren Ziel führt, hat das kurzweilige und anekdotenreiche Buch über die geistige Sozialisation des Autors in den siebziger Jahren leider nicht parat, aber der nun schon genügend reflektierte Einleitungssatz fiel mir ein. Nun verhält es sich so, dass mein Urteil, mag es auch noch so gut begründet sein, niemanden daran hindern wird, ein Buch zu lesen. Ich weiß aber, dass zumindest einmal eine an dieser Stelle abgegebene Empfehlung zum Erwerb eines Bands mit Erzählungen geführt hat. Und das ist Grund genug, der Schmähkritik, die mir in jungen Jahren eine Herzensangelegenheit war, für immer Adieu zu sagen.
Ab heute werde ich ausschließlich Bücher vorstellen, deren Lektüre ich als lohnend empfunden habe. Und schon muss ich ein wenig schwindeln. Den zweiten Band von J. J. Voskuils Groß-Epos Das Büro habe ich noch gar nicht gelesen. Nachdem mir aber der erste Band der chronologischen Schilderungen wenig aufregender Ereignisse in einem Amsterdamer Büro für Volkskunde, vor Jahren bei C.H. Beck erschienen, viel Freude bereitet hatte, drängt es mich kundzutun, dass der nicht genug zu lobende Berliner Verbrecher Verlag die Edition der deutschen Ausgabe dieses zeitgenössischen Klassikers der niederländischen Literatur weiter- und zum Ende zu führen gedenkt. Fünf weitere ziegelsteindicke Romane des Zyklus harren noch der Übersetzung, bis im Frühjahr 2017 das Großprojekt an sein glückliches Ende gelangt sein wird. Wer Erzählprosa der scheinbaren Ereignislosigkeit liebt und gerne über das bedrohliche Potential von Sätzen wie "Hinter sich hörte er Beerta mit Papier rascheln" nachsinnt, ist in diesem Büro bestens aufgehoben.
Über einen Mangel an Geschehen können sich die Leser von Markus Orths' fantastischem Roman Alpha & Omega nicht beklagen. Hier geht es um nichts Geringeres als die Rettung der Welt, die in einem künstlich erzeugten "Schwarzen Loch" zu verschwinden droht. Und nicht nur das. Kunst und Mode, Verzweiflung und Erotik, Sport und Theologie: Die Themenvielfalt dieses ansonsten physikalisch determinierten Werks ist berückend. Mit Verve reißt Orths jenen unseligen Zaun, den unsere kulturelle Tradition zwischen ernster und so genannter Unterhaltungsliteratur errichtet hat, ein, wobei er sich nicht scheut, seine Leser zur Anstrengung zu nötigen. Aber die gehört ja zum Vergnügen dazu. Das Personal in Alpha & Omega ist übrigens nicht rein fiktiv - der Bochumer Künstler Matthias Schamp, der vor vielen Jahren mit wertvollen Beiträgen auch in dieser Zeitschrift vertreten war, spielt eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung des "Schwarzen Lochs". Und wer die Gelegenheit hat, einen der gemeinsamen Auftritte von Autor und Romanfigur zu sehen, sollte weder Mühe noch Kosten scheuen.
So. Genug der Genitivreihen, angestrengten Metaphern und abgenutzten Floskeln. Es ist kein Wunder, dass jemand, dem Sprachskepsis ein fremdes Wort geblieben ist, vom Kritikerberuf hätte Abstand nehmen sollen, zumal die Verdienstmöglichkeiten lächerlich gering sind. Die Zeiten, da sich mit der Beschimpfung gesellschaftlicher Missstände oder miserabler Neuerscheinungen der Lebensunterhalt bestreiten ließ, sind lange vorbei. Aber ich wiederhole mich. 670 Seiten Büroprosa warten darauf, gelesen zu werden, Nachwort und Glossar nicht mitgezählt. Da ist jedes Jammern fehl am Platze. Das Leben ist schön. |