Nun haben sie mir auch noch den Fernseher weggenommen. Ich solle mich auf das gedruckte Wort konzentrieren, meinte einer meiner Wärter, bevor er die Tür zuschlug. Demütig löffle ich den Rest einer glutenreichen Industriesuppe aus meinem Blechgeschirr und lasse meinen Blick auf den kleinen Stoß von Broschüren, Büchlein und Heften fallen, die man mich hier zu lesen zwingt.
Ich habe keine Ahnung, wie ich an diesen Ort gekommen bin. Meine Entführer sind mir unbekannt. Nur was sie von mir wollen, steht fest. Man könne mein ewiges Schwadronieren über Modellflugzeuge, traditionsreiche Zigarettenmarken und längst verblichene Pop-Heroen nicht mehr hören, hieß es auf einem Zettel, der vorgestern unter der Zellentür hindurchgeschoben wurde. Bevor die auf einem Schemel neben meiner Pritsche gestapelten Rezensionsexemplare nicht gelesen und besprochen seien, dürfe ich nicht zurück nach Hause.
Essay oder Stirb heißt nun die Devise. Womit ich auch schon beim Titel des ersten Buches wäre. Frank Nihil nennt sich der 1979 geborene Autor und Musiker, dessen Lyrik und Prosa mich sehr an die ganz frühen Jahre dieser Zeitschrift erinnert. Als Charles Bukowski aufs Titelblatt kam und das Redaktionskollektiv seiner Befindlichkeit in so genannten "Spontantexten" Ausdruck verlieh. Was man damals den "allgemeinen Verblendungszusammenhang" nannte, heißt hier bei ihm zeitgemäß "die Smart-Mac-Mini-Pad-Industrie". Ob der Autor weiß, wie populär Texte dieser Art zu der Zeit seiner Geburt waren? Und wie energisch sie nur wenig später als "Laberlyrik" verunglimpft wurden? Kaum kommen mir diese Fragen in den Sinn, mag ich sie angesichts meiner Situation gar nicht mehr beantworten. Also greife ich zu Block und Bleistift und widme mich dem nächsten Bändchen.
Der Chemnitzer Poet Hans Brinkmann schätzt den Reim. Dieser darf auch gerne unrein sein: "Ist das nicht ein viel zu teures Pissoir? / Kind, wenn Du das sagst, ist es wohl wahr", endet beispielsweise das Gedicht "Monumentaler Entwurf". Ähnlich lebensnah, aber nie banal, geht es in den meisten der vergnüglich zu lesenden Stücke zu, die sich in seinem Band Despotie finden. "Der Eigensinn der Sprache fordert Respekt", weiß Brinkmann und handelt entsprechend. Studiert hat der 1956 geborene Autor übrigens in Leipzig, aber nicht Literatur, sondern Museologie. Zu seiner Zeit trug das entsprechende Literaturinstitut noch den Namen eines morphinsüchtigen Dichters. Heute wird auf einen Patron verzichtet. Schade eigentlich.
Aber ich schweife ab. Kratze mit dem Löffel an der Betonwand herum, lächerlich. Das umfangreichste Buch dieser nicht von mir getroffenen Auswahl stammt aus der eben erwähnten Schreibschule. Als "Jahresanthologie der Studierenden des Deutschen Literaturinstituts Leipzig" ist die Tippgemeinschaft ein Unternehmen mit Tradition. Und ihr Erscheinen wäre ein guter Anlass, einmal mehr über die jüngst engagiert diskutierte These nachzudenken, der universitäre Unterricht im kreativen Schreiben mache die grüblerischen Kinder des Bildungsbürgertums zu betriebskompatiblen Autoren. Ich begann schon während der Lektüre, ein bisschen Statistik zu führen. Wie oft treten Ich-Erzähler auf, wie viele Geschichten spielen im universitären Boheme-Milieu, und was ist aus dem in den neunziger Jahren so populären Raymond-Carver-Effekt geworden? Doch dann lese ich von einem jungen Mann, der aus Gründen, die ihm selbst nicht ganz klar sind, auf einer Alm arbeitet. Und stoße auf Sätze wie diesen: "Guten Morgen! zwitscherte die Sennerin und band ganz gemächlich der letzten Kuh den Schwanz hoch." Auch das ist Literatur der Arbeitswelt. In anderen Beiträgen geht es um Tätigkeiten in der Gastronomie und in der Krankenpflege. Aber auch um jemanden, der aus New York anruft. International eben. Das fuchst mich jetzt besonders, sitze ich doch hier fest, ohne Aussicht auf Befreiung. Also schnell noch ein empfehlender Satz formuliert: Die Anthologie Tippgemeinschaft 2014 zeigt Vielfalt und Talent. Und Traditionsbewusstsein, wie sich an folgender Passage erkennen lässt: "Ich war jetzt auf dem Hof meiner Eltern. Einen Schlüssel hatte ich nicht mehr. Aber das Tor war fast immer offen." Leider lässt sich das von meinem jetzigen Aufenthaltsort nicht sagen. Um mir nicht vorwerfen lassen zu müssen, ich hätte es nicht versucht, schlage ich Morsezeichen gegen die Tür, doch ich höre nicht einmal ein verhaltenes Klopfen. Also weiter.
Ganz unten im Stapel zeigen sich ein paar lose Blätter. Ich ziehe eins heraus und lese von den Einschränkungen, denen sich ein junger Mensch unterwerfen muss, wenn er beschließt, seine Zeit dem Schreiben zu widmen, anstatt beispielsweise Bilanzen zu erstellen oder Immobilien zu verkaufen. Da gibt es manchmal am Monatsende nur noch Nudeln. Wahrscheinlich doch mit Ketchup, vermute ich und beiße in die schon harte Scheibe Graubrot, die mir zusammen mit der Suppe serviert wurde. Aber da sind noch mehr Blätter. Zusammengelegt ergeben sie eine Schrift, die sich der Situation diplomierter Jungautoren widmet. Also von Zeitgenossen, die bereits sind, was die meisten Mitglieder der Leipziger Tippgemeinschaft werden wollen. Hier findet sich auch Florian Kesslers Provokation "Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn", deren Vorab-Veröffentlichung in der Zeit für die oben erwähnte und bei Erscheinen dieser Kolumne vielleicht schon vergessene Debatte sorgte. Lohnenswert ist die Lektüre der Aufsätze und Erfahrungsberichte, die Jan Fischer unter dem Titel Irgendwas mit Schreiben zusammengestellt hat, dennoch. Allein schon, um sich ein wenig vom Enthusiasmus eines Stefan Mesch anstecken zu lassen, der in einer hundert Punkte umfassenden Suada seine Wunschexistenz als schreibender, lesender und schauender Mensch formuliert. "Ich will nicht daran denken, was ich verpasse", heißt es da abschließend.
Mir kommt momentan leider gar kein anderer Gedanke. Es ist kalt, die Suppe rumort in meinem Magen, und an Lesestoff ist auch nichts mehr da. In der Hoffnung, dass sie bald gefunden werden, schiebe ich drei vollgekritzelte Seiten unter der Zellentür durch und schreie: "Fertig, Kerkermeister!" Dann lege ich mich auf die Pritsche. Starre an die vollkommen schriftfreie Decke. |