Dieses Dokument enthält keine Überschrift, sagt mein Computer zu mir. Es wird auch keine bekommen. Für diesen Text bürge ich allein mit meinem Namen - ob dieser ein guter ist, vermag ich nicht zu sagen. Für mich klingt er überzeugend: ein zweisilbiges Wort umrahmt von einsilbigen. Vom kurzen "i" über ein beinahe geflötetes "ü", dem das weiche doppelte "l" folgt, zu einem beinahe hingerotzt wirkenden knappen "e". Das nicht zu tief im Rachen zu sprechende "ch" am Ende tut ein Übriges. Mit einem solchen Namen kann man Soziologieprofessor werden. Oder Literaturkritiker. Das habe ich zumindest vor vielen Jahren einmal gedacht.
An meine mageren Honorare habe ich mich gewöhnt. Da ich schon seit langer Zeit darbe, konnte mich die finanzielle Krise der gedruckten Medien, die vielen meiner Kolleginnen und Kollegen arg zu schaffen macht, gar nicht mehr treffen. Dass meine Meinung zu unbekannt ist, um als irrelevant abgetan zu werden, betrübt mich ebenfalls kaum. Doch nun nagten Selbstzweifel an meiner noch immer ungefestigten Persönlichkeit, die mich erst in der letzten Woche für Tage in Untätigkeit verharren ließen. Stundenlang saß ich in meiner Werkstatt zwischen halbfertigen Flugmodellen, starrte auf einen Schraubstock und verstaubte bei lebendigem Leibe. In Reichweite befanden sich zwei Bücher - eine dickleibige Lyrikanthologie und ein broschierter Band in einem schmucken Schutzumschlag.
Der Plan war wie folgt gewesen: Ich würde einen der Essays von Monika Rinck - versammelt in ihrem Band Risiko und Idiotie - lesen und anschließend die Anthologie nach Gedichten durchsuchen, die die Thesen der belesenen Lyrikerin entweder bestätigten, widerlegten oder sich überhaupt nicht auf sie beziehen ließen. Ein Beispiel: Der Dichter, heißt es auf Seite 28, frage sich, ob die verständliche Sprache sich herausgefordert fühle, weil es die poetische Sprache gebe. Nun glaube ich, dass die Antwort auf diese Frage gar nicht so schwer ist. Sie tut es nicht. Ganz im Gegensatz zur poetischen Sprache natürlich, deren Vertreter sich ständig genötigt fühlen, der "Tristesse der Verwaltungssprache und dem Einerlei der Mediensprache" - so formuliert es Monika Rinck - etwas entgegenzusetzen. Das ist nicht neu. Der kühne Hugo Ball setzte sich 1916 bei seinem Auftritt im Cabaret Voltaire eine Pappröhre auf den Kopf und rezitierte seine Lautgedichte, um sich von der "vom Journalismus verdorbenen Sprache" zu verabschieden. Und in der Lyrikanthologie fand ich ein Gedicht von Ralf Rothmann mit den Zeilen "Poeten mit Pappnasen saßen beim Bier / alle wie Tinte, blass und blau". Das gefiel mir. Lyriker mit der Begabung zur Selbstironie hatte ich schon immer gemocht. Aber wurde ich dem gedankenschweren Essay gerecht, wenn ich nun einfach mit flapsigen Gedichtzitaten um mich warf? Monika Rinck arbeitet sich mit Vehemenz an den Problemen von Lyrik und Gesellschaft ab und fordert von ihren Lesern mindestens das Gleiche. Dabei spart sie nicht an handfesten Beispielen aus irgendeinem Alltag. Das müsste mir hochsympathisch sein. Doch stattdessen ergriff mich Panik. Nie würde ich auf Augenhöhe mit der Autorin diskutieren können, so wie sie es nächtelang mit ihren dichtenden Kolleginnen tut, ohne, das gibt sie zu, an ein Ende zu gelangen. Aber wie sollte man auch. Viele schreiben Gedichte, aber nur wenige wollen Gedichte lesen. Neulich sah ich im Kulturfernsehen ein Interview mit dem vor zehn Jahren verstorbenen Thomas Kling. Da war von wenigen hundert Lyriklesern die Rede. Allein die Anthologie, aus der ich gleich noch ein wenig zitieren werde, präsentiert 111 Dichterinnen und Dichter. Und die kommen alle aus Nordrhein-Westfalen oder wurden zumindest dort geboren. Hochgerechnet käme man auf mindestens 500 Lyrikerinnen und Lyriker bundesweit, und das wären nur jene, die bereits das Glück einer Veröffentlichung erfahren durften.
Um dann von einer Handvoll Menschen gelesen zu werden, nämlich denen, die sich nicht vor der berüchtigten Unverständlichkeit zeitgenössischer Poesie fürchten. Monika Rinck wirbt für mehr Mut: "Stellen Sie sich vor", fragt sie auf Seite 100, "Sie würden alles sofort verstehen. Es gäbe keinen Widerstand, weder innerlich noch äußerlich". Fürwahr, das wäre eine triste Welt. Doch vielen sind bereits jene Rätsel genug, die der durchschnittliche Serienmörderthriller bereithält, zumal man davon ausgehen kann, dass sie im Laufe der folgenden 300 oder 400 Seiten gelöst werden. Und sie weigern sich standhaft, ihren "Blick auf die Details zu lenken, auf die kleinsten Einheiten der Sprache, auf die Materialität der Worte und auf ihre Geschichte". Das kann auch ein Wort wie der Markenname "Nesquik" sein, der in einem Gedicht von Marcel Beyer eine Rolle spielt. Oder "fuszballer", wie Stan Lafleur vielleicht aus Achtung für die österreichische Avantgardistin Friederike Mayröcker buchstabiert, deren Markenzeichen die Verweigerung des "ß" ist. Dann erinnerte ich mich an meine eigenen frühen Lyrikversuche, getippt auf einer Olympia Monica in radikaler Kleinschreibung, wie sie auch der von mir verehrte H. C. Artmann pflegte. Und verfiel in Katatonie.
Tage vergingen. Auf dem Schraubstock landete eine Fliege und flog wieder davon. Ein Hauch von Wind drang durch eines der undichten Fenster, wirbelte ein wenig Sägemehl auf und verging. Draußen fiel ein feiner Regen. Da tauchte aus den Tiefen meiner Erinnerung ein Satz auf. Man könne Dichter sein, hatte einst jemand proklamiert, ohne auch irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben. Und ich stand auf, schüttelte den Staub von der Kleidung und ging ins Freie. |