Friedrich Lötzin
will mich verklagen. Als ich gestern kurz die Nase aus der Tür
steckte, um nach dem Postboten Ausschau zu halten, hätte
er es fast geschafft, in meine Werkstatt einzudringen. Glücklicherweise
gelang es mir, schnell abzuriegeln, bevor ich dem Wüterich
in die Hände fiel. "Ich verklag dich, Müller-Zech",
brüllte er und schlug mit der Faust mehrfach gegen die Tür,
"dich und dieses Mistheftchen."
Was war geschehen? Beim letzten Stammtisch des Modellflugvereins
hatten wir noch friedlich zusammen ein Bier getrunken. Doch dann
las er zufällig jene Ausgabe dieser Zeitschrift, in der ich
ein skurriles Individuum unter dem Namen "der nervöse
Norbert" habe auftreten lassen (siehe Am
Erker Nr. 43), und seitdem ist er fest davon überzeugt,
ich hätte ihn, einen ehrlichen Sachbearbeiter beim Straßenverkehrsamt,
karikiert und damit bloßgestellt. Wie jener Norbert drehe
auch er seine Zigaretten selbst, hatte er mir gleich darauf am
Telefon erzählt, und ein Romanmanuskript sei ebenfalls vorhanden.
Ich würde mich doch wohl erinnern, dass er mich vor einiger
Zeit um Rat bei der Suche nach einem geeigneten Verlag gefragt
habe. Und jetzt das! Ein Vertrauensbruch sondergleichen.
Ich war ratlos. Was sollte ich dem Mann entgegnen? Dass der "nervöse
Norbert" meiner Fantasie entsprungen war? Das stimmte ja
auch nicht. Aber durfte ich es wagen, das wahre Vorbild für
jene Episode aufzuklären, um mir Lötzin vom Hals zu
schaffen? Dabei hatte ich ganz andere Probleme. Wenn ich wenigstens
aus dem Haus käme! Dann bestünde zumindest die vage
Hoffnung, dass mir jemand über den Weg liefe, der in dieser
Kolumne eine Rolle spielen könnte. So verbrachte ich die
Tage in meiner verriegelten Werkstatt, ging abends sehr früh
ins Bett und las, während der Westdeutsche Rundfunk meine
Nerven mit "Musik zum Träumen" beruhigte, einen
Roman über einen Schweizer Lehrer in Paris, der seinem Leben
so gar nichts abgewinnen mag, sich aber dennoch vor einer möglicherweise
tödlichen Krankheit fürchtet. Und dann haut er einfach
ab. Kauft sich einen antiken PKW und fährt herum. In sein
Heimatdorf und ans Meer. Dabei trifft er einige Frauen, eine von
ihnen liebt er vielleicht sogar. Obwohl er auf den ersten Blick
wie ein ziemlich abgeklärter Typ wirkt. Aber das ist wohl
nur Fassade. Peter Stamm, der diese
Geschichte mit gewohntem Understatement erzählt, ist ein
Meister der scheinbar einfachen, dingorientierten Sprache, hinter
der sich wahre Abgründe aufzutun scheinen. Wenn zum Beispiel
von Andreas, der Hauptfigur, gesagt wird, dass er es mochte, Teil
einer Kulisse zu sein, und dass ihm die Bilder eines Films, der
in seiner Gegend gedreht wurde, realer vorkommen als die Wirklichkeit,
dann klingt das sehr bedeutungsvoll, ist aber tatsächlich
ein wenig kitschig. Wahrscheinlich ist dieser Roman deshalb trotz
seiner manchmal aufdringlichen Tristesse so eine süffige
Lektüre. Mir zumindest gefällt es, einen Satz wie "Der
Hamburger war kalt und schmeckte widerlich, aber Andreas aß
ihn trotzdem" zu lesen, während ich unter einer warmen
Decke liege und einem einschmeichelnden Saxophon mit süßlicher
Streicherbegleitung lausche.
Vor allem, wenn draußen gerade eines dieser grausigen Augustgewitter
tobt und das Wasser sturzflutartig über die Dachrinne schwappt.
Dann denke ich, dass die Natur manchmal eine eher unerfreuliche
Erscheinungsform annimmt und mir deshalb gestohlen bleiben kann.
Und doch empfinde ich Hochachtung vor jungen Menschen wie dem
Schriftsteller Andreas Maier und der
Theologin Christine Büchner, die
sich mit Begeisterung der Wildpflanzenbestimmung und Vögelbeobachtung
hingeben, um gleichzeitig dem besinnungslosen Konsum eine Abfuhr
zu erteilen. Das finde ich schön, da möchte ich sogar
mittun, deshalb lese ich vor dem Einschlafen gerne einige Seiten
in ihrem hübschen Büchlein Bullau. Versuch über
die Natur, das am Ende übrigens von einer Taube am Kölner
Dom erzählt, nicht gerade von dem, was man sich gemeinhin
unter Natur vorstellt. Den rätselhaften Satz, mit dem das
Buch schließt, würde ich mir gerne von dem Autorenpaar
erklären lassen. Überhaupt sollten die beiden schleunigst
Lesungen aus diesem Büchlein veranstalten, vielleicht könnten
sie noch mehr junge Leute raus ins Grüne oder Graue treiben.
Ich jedenfalls bleibe lieber drinnen, zumindest so lange, bis
Friedrich Lötzin sich beruhigt hat.
So ganz von der Außenwelt ist man ja doch nicht abgeschnitten.
Zeitungen kommen ins Haus, das Telefon klingelt, und manchmal
lese ich sogar meine elektronische Post. Gerade hatte ich einen
aufgeregten Herrn Volker am Apparat, der mir mit sich überschlagender
Stimme anpries, wie viele tolle neue Bücher uns in diesem
Herbst wieder geschenkt würden. Während ich mich fragte,
ob die Verlage mittlerweile Callcenter beschäftigen, um kleine
Kritiker wie mich für ihre Produkte zu begeistern, schwadronierte
der Mann von wahnsinnig poetischen und spannenden Werken, von
neu erwachter Erzählfreude und von der Poesie, die sich hinter
gläsernen Romanfiguren, er sagte übrigens Menschen,
verberge. Es wollte mir nicht gelingen, den Propagandisten abzuwimmeln.
Doch, doch, ich würde sicherlich auf das eine oder andere
Werk zurückkommen. Gewiss, auch mich interessiere brennend,
warum das eine Buch, das ein Dichter aus der Uckermark immer wieder
neu schreibe, jedes Mal besser werde. Und von der Weisheit einer
älteren Dame aus Darmstadt hätte ich bereits als Schüler,
damals war sie jünger, aber auch schon sehr weise, nicht
genug bekommen können. Aber Herr Volker ließ nicht
locker. Er wollte Zustimmung, Begeisterung, Ekstase. Mit wurde
heiß, der Hörer entglitt meiner Hand.
Schweißgebadet wache ich auf, und mein Blick fällt
auf das Feuilleton der Sonntagszeitung neben meinem Kopfkissen.
Und nun macht sich wirklich mein Telefon bemerkbar. Lötzin
ist am Apparat und unterbreitet mir ein Angebot: Wenn ich seinen
Roman lese und weiterempfehle, werde er von einer Klage absehen.
Also sage ich hier mit Nachdruck: Friedrich Lötzins autobiographisches
Werk Die Frau des Sachbearbeiters ist eine Jahrhundertgeschichte.
Es ist das dunkelste und hellste Buch dieses an dunklen und hellen
Büchern so reichen Bücherherbstes. Es ist so klar und
wahr wie die Dienstpläne des Straßenverkehrsamtes,
die wir auf dreißig der insgesamt 600 Seiten dieses Romans
nachlesen dürfen. Es ist wahnsinnig still und poetisch. Ein
Zeugnis letzter Lebensgier. Ein Lötzin für die Ewigkeit.
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