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Fritz Müller-Zech 43
Die Kolumne
 

Gestern kam der nervöse Norbert zu Besuch. Er hockte sich auf die kleine Holzbank in meiner Werkstatt, fummelte ein plattgesessenes Päckchen Samson Feinschnitt aus der hinteren Tasche seiner Nietenhose und drehte sich eine Zigarette mit dem Durchmesser eines kleinen Fingers. Dann saß er schweigend da, rauchte und spuckte Tabakkrümel auf den Fußboden. Auch ich sagte nichts.
Mit dem nervösen Norbert habe ich vor langen Jahren einmal in einer Wohngemeinschaft zusammengelebt. Damals studierte er Sozialkunde und Biologie an der Pädagogischen Hochschule und betrieb nebenher einen schwunghaften Handel mit Raubdrucken von Szenebestsellern, die er nachts auf der Offsetdruckmaschine des Allgemeinen Studentenausschusses herstellte. Norbert hatte alles im Programm, was das alternative Lesepublikum begehrte, vom Namen der Rose bis zur Theorie des kommunikativen Handelns. Hundertfach lagerten die miserabel zusammengeleimten Papierblöcke in unserer Wohnküche, denn in Norberts kleinem Zimmer war einfach kein Platz mehr, nachdem er ein Hochbett, eine Stereoanlage mit gewaltigen Bassreflexboxen und eine wohl eintausend Vinylscheiben umfassende Schallplattensammlung dort untergebracht hatte. Immer, wenn mich das Gebimmel der Tubular Bells oder das Quietschen und Zirpen eines Moog-Synthesizers aus dem Schlaf riß, wußte ich, daß Norbert von einer seiner spätabendlichen Verkaufstouren durch die Studentenkneipen heimgekehrt war. Selbst Bücher gelesen hat er, soweit ich weiß, fast nie. Er hatte einfach keine Zeit dazu. Außerdem war er viel zu nervös.
Auch jetzt schien es, als ob er jeden Moment aufspringen würde. Die Finger seiner linken Hand klopften einen lautlosen Rhythmus auf der Kniescheibe, während das andere Bein unablässig zuckte. Und dann brach es aus ihm heraus. Der nervöse Norbert hatte ein Buch geschrieben. Einen richtigen Roman. Natürlich über die siebziger Jahre. Stolz zog er einen Stapel Papier aus der mitgebrachten Plastiktasche. "Du kommst auch drin vor. Kapitel 7. Die Spüldebatte." Norberts Augen glänzten. Mich schauderte. "Ich habe nämlich damals alles aufgeschrieben. Habt ihr gar nicht bemerkt. Und nun brauche ich einen Verlag. Du kennst dich doch da aus." Das hatte ich befürchtet. Behutsam setzte ich ihm auseinander, daß der Markt für Wohngemeinschaftsgeschichten nicht sehr groß sei. Zudem hätten hier die 68er ein Monopol errichtet, das sie nicht kampflos preisgeben würden. Und ich zeigte Norbert eine Neuerscheinung, die mit der letzten Lieferung des Zweitausendeins-Versands bei mir eingetroffen war. Eine Ulrike Heider, Jahrgang 1947, erzählte hier ihr bewegtes Leben im Kampf um eine bessere Welt als ständige Auseinandersetzung mit geldgierigen Hausbesitzern, garstigen Vermietern und lästigen Mitbewohnern. Da kam der nervöse Norbert mit seinen Geschichten von verkrusteten Geschirrbergen, unbezahlten Telefoneinheiten und dem ständigen Streit ums Fernsehprogramm einfach zu spät, und zwar mindestens zehn Jahre. Schließlich sei es nicht einmal sicher, ob noch viele Leute lesen wollten, daß Ulrike Heiders Glaube an die Utopie der befreiten Gesellschaft trotz ihrer Erfahrungen ungebrochen war. Aber Norbert ließ sich nicht überzeugen. Jede Generation habe ein Recht auf ihre eigenen WG-Geschichten, murmelte er und zog trotzig an seiner Zigarette. Er habe es schon damals kaum ertragen, wenn ihm irgendwelche alten Zausel, die er bei seinen Verkaufstouren traf, belehrten, daß ihre Motive bei der Herstellung von Raubdrucken rein politischer Natur gewesen seien, da die aufmüpfigen Studenten sonst ihre sexuelle Revolution ohne die Schriften Wilhelm Reichs hätten abhalten müssen. Und wenn er selbst wieder an die Druckmaschine müßte, Norberts Buch würde erscheinen.
Warum auch nicht. Eigentlich war es doch schön, wenn jemand sich so überzeugt von seiner Botschaft zeigte. Schließlich gab es viele andere, die sich in ihrem Mitteilungsdrang nicht abhalten ließen, ohne sich viel um die Begrenztheit ihrer sprachlichen und erzählerischen Mittel zu scheren. Wo nämlich der Wille zur Literatur waltet, ist jeder Widerstand zwecklos. Da wird Satz um Satz verfertigt, um eine Handlung ihrem Ende entgegenzutreiben. "Er packte sie in seinen metallischgrünen Twingo", heißt es dann, und wie die unglückliche Heldin Aloe wird auch der Leser mitgeschleppt in Ulrike Draesners themenschwerem Roman Mitgift. Körper, Geschlecht, Identität: Im Gegensatz zum nervösen Norbert hat die Autorin sehr viel gelesen. Aber muß sie deswegen auch viel schreiben? Doch vielleicht wäre, wenn Ulrike Draesner sparsamer mit ihren Formulierungen umgegangen wäre, auch einer meiner momentanen Lieblingssätze auf der Strecke geblieben, nämlich dieser: "Wie lappige Kohlrabi standen die Lehrer im Pausenhof." Das nenne ich eine gelungene und in ihrer vollkommenen Nutzlosigkeit wirklich wertvolle Beobachtung.
Mittlerweile hatte Norbert begonnen, aus seinem Manuskript vorzulesen. Es ging um einen skurrilen Typen, an den auch ich mich vage erinnern konnte. Er lebte in der Wohnung unter uns und hielt einen riesigen Schäferhund, der ständig ins Treppenhaus pinkelte, so daß wir wegen des Gestanks auf dem Weg nach draußen oft die Luft anhalten mußten. Das Tier war außerdem mordsgefährlich. Einmal hatte sein Bellen den nervösen Norbert so erschreckt, daß ihm der ganze Bauchladen mit den Raubdrucken in eine frische Lache fiel. Keine schöne Geschichte. Aber nun ist der Schäferhundmann Literatur geworden. Zum Glück bislang noch unveröffentlichte. Veröffentlicht ist hingegen, was Arne Rautenberg über einen seltsamen Hausgenossen namens Hartmut geschrieben hat. Warum, läßt sich allerdings nicht so leicht sagen, denn weder Hartmut noch der von ihm faszinierte Ich-Erzähler, der mit dem Autor Namen und Beruf teilt, scheinen mir besonders interessant. Dafür ist das Bändchen mit dem Titel Der Sperrmüllkönig aber ganz ansprechend erzählt. Es erinnert ein bißchen an die Alltagsgeschichten, die man in der hübschen Berliner Zeitschrift Salbader lesen kann. Diese sind aber meist nur ein paar Seiten lang, während es dieses Buch auf immerhin 158 Seiten bringt. Das liegt nicht zuletzt daran, daß der Erzähler meint, sich auch noch als Philosoph betätigen zu müssen, der das Schriftstellerdasein und die menschliche Existenz an sich zum Gegenstand ironischer Reflexionen wählt. "Gib mir einen klaren Gedanken", fleht er gegen Ende des Buches, aber es ist zu spät.
Zu spät war es auch, um Norberts Vorlesefluß zu stoppen. Inzwischen war er im dritten Kapitel angelangt, in dem die Wohngemeinschaft darüber diskutiert, ob an einem durchschnittlich lauen Herbsttag die Heizkörper aufgedreht werden dürfen. Mich fröstelte bei der Erinnerung, und ich ging in die Küche, um Teewasser aufzusetzen.

 

Ulrike Heider: Die Ruhe nach dem Sturm. 324 Seiten. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins. Hamburg 2001. € 16,85.

Ulrike Draesner: Mitgift. Roman. 378 Seiten. Luchterhand. München 2002. € 22,50.

Arne Rautenberg: Der Sperrmüllkönig. Roman. 158 Seiten. Hoffmann und Campe. Hamburg 2002. € 17,90.