Gestern kam der nervöse Norbert zu Besuch.
Er hockte sich auf die kleine Holzbank in meiner Werkstatt, fummelte
ein plattgesessenes Päckchen Samson Feinschnitt aus der hinteren
Tasche seiner Nietenhose und drehte sich eine Zigarette mit dem
Durchmesser eines kleinen Fingers. Dann saß er schweigend
da, rauchte und spuckte Tabakkrümel auf den Fußboden.
Auch ich sagte nichts.
Mit dem nervösen Norbert habe ich vor langen Jahren einmal
in einer Wohngemeinschaft zusammengelebt. Damals studierte er
Sozialkunde und Biologie an der Pädagogischen Hochschule
und betrieb nebenher einen schwunghaften Handel mit Raubdrucken
von Szenebestsellern, die er nachts auf der Offsetdruckmaschine
des Allgemeinen Studentenausschusses herstellte. Norbert hatte
alles im Programm, was das alternative Lesepublikum begehrte,
vom Namen der Rose bis zur Theorie des kommunikativen
Handelns. Hundertfach lagerten die miserabel zusammengeleimten
Papierblöcke in unserer Wohnküche, denn in Norberts
kleinem Zimmer war einfach kein Platz mehr, nachdem er ein Hochbett,
eine Stereoanlage mit gewaltigen Bassreflexboxen und eine wohl
eintausend Vinylscheiben umfassende Schallplattensammlung dort
untergebracht hatte. Immer, wenn mich das Gebimmel der Tubular
Bells oder das Quietschen und Zirpen eines Moog-Synthesizers
aus dem Schlaf riß, wußte ich, daß Norbert von
einer seiner spätabendlichen Verkaufstouren durch die Studentenkneipen
heimgekehrt war. Selbst Bücher gelesen hat er, soweit ich
weiß, fast nie. Er hatte einfach keine Zeit dazu. Außerdem
war er viel zu nervös.
Auch jetzt schien es, als ob er jeden Moment aufspringen würde.
Die Finger seiner linken Hand klopften einen lautlosen Rhythmus
auf der Kniescheibe, während das andere Bein unablässig
zuckte. Und dann brach es aus ihm heraus. Der nervöse Norbert
hatte ein Buch geschrieben. Einen richtigen Roman. Natürlich
über die siebziger Jahre. Stolz zog er einen Stapel Papier
aus der mitgebrachten Plastiktasche. "Du kommst auch drin
vor. Kapitel 7. Die Spüldebatte." Norberts Augen glänzten.
Mich schauderte. "Ich habe nämlich damals alles aufgeschrieben.
Habt ihr gar nicht bemerkt. Und nun brauche ich einen Verlag.
Du kennst dich doch da aus." Das hatte ich befürchtet.
Behutsam setzte ich ihm auseinander, daß der Markt für
Wohngemeinschaftsgeschichten nicht sehr groß sei. Zudem
hätten hier die 68er ein Monopol errichtet, das sie nicht
kampflos preisgeben würden. Und ich zeigte Norbert eine Neuerscheinung,
die mit der letzten Lieferung des Zweitausendeins-Versands bei
mir eingetroffen war. Eine Ulrike Heider,
Jahrgang 1947, erzählte hier ihr bewegtes Leben im Kampf
um eine bessere Welt als ständige Auseinandersetzung mit
geldgierigen Hausbesitzern, garstigen Vermietern und lästigen
Mitbewohnern. Da kam der nervöse Norbert mit seinen Geschichten
von verkrusteten Geschirrbergen, unbezahlten Telefoneinheiten
und dem ständigen Streit ums Fernsehprogramm einfach zu spät,
und zwar mindestens zehn Jahre. Schließlich sei es nicht
einmal sicher, ob noch viele Leute lesen wollten, daß Ulrike
Heiders Glaube an die Utopie der befreiten Gesellschaft trotz
ihrer Erfahrungen ungebrochen war. Aber Norbert ließ sich
nicht überzeugen. Jede Generation habe ein Recht auf ihre
eigenen WG-Geschichten, murmelte er und zog trotzig an seiner
Zigarette. Er habe es schon damals kaum ertragen, wenn ihm irgendwelche
alten Zausel, die er bei seinen Verkaufstouren traf, belehrten,
daß ihre Motive bei der Herstellung von Raubdrucken rein
politischer Natur gewesen seien, da die aufmüpfigen Studenten
sonst ihre sexuelle Revolution ohne die Schriften Wilhelm Reichs
hätten abhalten müssen. Und wenn er selbst wieder an
die Druckmaschine müßte, Norberts Buch würde erscheinen.
Warum auch nicht. Eigentlich war es doch schön, wenn jemand
sich so überzeugt von seiner Botschaft zeigte. Schließlich
gab es viele andere, die sich in ihrem Mitteilungsdrang nicht
abhalten ließen, ohne sich viel um die Begrenztheit ihrer
sprachlichen und erzählerischen Mittel zu scheren. Wo nämlich
der Wille zur Literatur waltet, ist jeder Widerstand zwecklos.
Da wird Satz um Satz verfertigt, um eine Handlung ihrem Ende entgegenzutreiben.
"Er packte sie in seinen metallischgrünen Twingo",
heißt es dann, und wie die unglückliche Heldin Aloe
wird auch der Leser mitgeschleppt in Ulrike
Draesners themenschwerem Roman Mitgift. Körper,
Geschlecht, Identität: Im Gegensatz zum nervösen Norbert
hat die Autorin sehr viel gelesen. Aber muß sie deswegen
auch viel schreiben? Doch vielleicht wäre, wenn Ulrike Draesner
sparsamer mit ihren Formulierungen umgegangen wäre, auch
einer meiner momentanen Lieblingssätze auf der Strecke geblieben,
nämlich dieser: "Wie lappige Kohlrabi standen die Lehrer
im Pausenhof." Das nenne ich eine gelungene und in ihrer
vollkommenen Nutzlosigkeit wirklich wertvolle Beobachtung.
Mittlerweile hatte Norbert begonnen, aus seinem Manuskript vorzulesen.
Es ging um einen skurrilen Typen, an den auch ich mich vage erinnern
konnte. Er lebte in der Wohnung unter uns und hielt einen riesigen
Schäferhund, der ständig ins Treppenhaus pinkelte, so
daß wir wegen des Gestanks auf dem Weg nach draußen
oft die Luft anhalten mußten. Das Tier war außerdem
mordsgefährlich. Einmal hatte sein Bellen den nervösen
Norbert so erschreckt, daß ihm der ganze Bauchladen mit
den Raubdrucken in eine frische Lache fiel. Keine schöne
Geschichte. Aber nun ist der Schäferhundmann Literatur geworden.
Zum Glück bislang noch unveröffentlichte. Veröffentlicht
ist hingegen, was Arne Rautenberg über
einen seltsamen Hausgenossen namens Hartmut geschrieben hat. Warum,
läßt sich allerdings nicht so leicht sagen, denn weder
Hartmut noch der von ihm faszinierte Ich-Erzähler, der mit
dem Autor Namen und Beruf teilt, scheinen mir besonders interessant.
Dafür ist das Bändchen mit dem Titel Der Sperrmüllkönig
aber ganz ansprechend erzählt. Es erinnert ein bißchen
an die Alltagsgeschichten, die man in der hübschen Berliner
Zeitschrift Salbader lesen kann. Diese sind aber meist
nur ein paar Seiten lang, während es dieses Buch auf immerhin
158 Seiten bringt. Das liegt nicht zuletzt daran, daß der
Erzähler meint, sich auch noch als Philosoph betätigen
zu müssen, der das Schriftstellerdasein und die menschliche
Existenz an sich zum Gegenstand ironischer Reflexionen wählt.
"Gib mir einen klaren Gedanken", fleht er gegen Ende
des Buches, aber es ist zu spät.
Zu spät war es auch, um Norberts Vorlesefluß zu stoppen.
Inzwischen war er im dritten Kapitel angelangt, in dem die Wohngemeinschaft
darüber diskutiert, ob an einem durchschnittlich lauen Herbsttag
die Heizkörper aufgedreht werden dürfen. Mich fröstelte
bei der Erinnerung, und ich ging in die Küche, um Teewasser
aufzusetzen.
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