Es war ein kalter Februartag. Kein Sonnenstrahl
vermochte der dichten Wolkendecke zu trotzen. Durch die trübe
Scheibe meines Küchenfensters konnte ich vermummte Gestalten
mit geröteten Nasen beobachten, die in kurzen Abständen
immer wieder winzige Flaschen zum Munde führten. Vor mir
stand ein Teller, auf dem sich eine Scheibe Graubrot befand, die
ich vor wenigen Minuten mit einer dünnen Schicht Margarine
bestrichen hatte, daneben eine große Tasse. Mit spitzen
Fingern nahm ich den ausgelaugten Teebeutel aus der heißen
dunklen Flüssigkeit und legte ihn auf dem Tellerrand ab,
wobei ich darauf achtete, das Brot nicht zu befeuchten. Kaum etwas
finde ich furchtbarer als aufgeweichtes Graubrot.
Seit einigen Wochen frühstückte ich so, nur an Sonntagen
gönnte ich mir ein wenig Marmelade. Mittags gab es einen
Teller Gemüseeintopf, den ich in der Regel für drei
Tage auf Vorrat kochte. Das Abendessen glich dem Frühstück.
Ferngesehen hatte ich seit Wochen nicht mehr, geschweige denn
ein Buch gelesen oder an einem Flugzeugmodell gebastelt. Wenn
es so weiterging, würde ich mir sogar einen Untermieter für
die Werkstatt suchen müssen.
Jeden Tag nämlich saß ich stundenlang an meinem längst
schrottreifen Computer, ärgerte mich über Windows 95
und versuchte verkäufliche Texte zu verfassen. Aber die Redaktionen
waren stur. "Wir danken Ihnen für Ihre Einsendung, aber
für Ihr Manuskript haben wir momentan leider keine Verwendung."
Immer wieder diese Standardabsagen. Dabei gab ich mir wirklich
alle Mühe, überraschte mich selbst mit geistreichen
Bemerkungen, brillanten Formulierungen und scharfen Beobachtungen.
Doch es schien alles umsonst. Wahrscheinlich war ich den Jungspunden,
die jetzt bei den Medien das Sagen hatten, schlicht zu alt. Oder
nicht poppig genug. Aber über coole Typen in der Hauptstadt
zu schreiben, war meine Sache nicht. Und mit PC-Spielen kannte
ich mich auch nicht aus.
Mein spärliches Bankguthaben schmolz wie das sprichwörtliche
Eis in der Sonne, und selbst rigide Sparmaßnahmen würden
meinen absehbaren Bankrott nicht abwenden können.
Mir fiel der gute Oskar Maria Graf ein.
In einer vergleichbaren Situation hatte er teure Bücher auf
Ratenzahlung gekauft und sie gleich wieder im nächsten Antiquariat
zu Geld gemacht. Solche Streiche erschienen mir zu kriminell.
Aber warum sollte ich nicht einige der vielen Rezensionsexemplare,
die sich in der Werkstatt stapelten, verhökern. Die Biographie
von Harry Graf Kessler zum Beispiel. Immer wieder hatte
ich mir gerne vorgestellt, dass ein reicher kunst- und literaturinteressierter
Mäzen, wie Kessler es war, sich der Geschicke von Am Erker
annehmen würde, allein damit meine Beiträge endlich
angemessen honoriert werden würden. Doch als ich nun in seiner
Lebensgeschichte herumblätterte, stieß ich auf den
Satz: "Das Elend der Boheme sprach Kessler nicht an."
Ja, so waren sie, die Geldbesitzer. Ich würde meine Existenz
als Bohemien wirklich gerne aufgeben, dachte ich, als es an der
Tür schellte. Ich öffnete, und ein junger Mensch stand
vor mir. Ob ich Herr Müller-Zech sei? Er habe meine Texte
gelesen und finde in ihnen etwas, das rar geworden sei in der
heutigen Literatur, nämlich einen sozialen Standpunkt. Das
alles brachte er so hastig hervor, dass ich Mühe hatte, ihm
zu folgen. Kurze Zeit später saß er mir gegenüber
am Küchentisch. Boris, so hieß der Besucher, ärgerte
sich schon seit Jahren über die deutsche Gegenwartsliteratur.
Kleingeistig und spießig seien die Erzählungen, mit
deren Erstellung sich eine ganze Horde stipendienverwöhnter
Schreiberlinge die Zeit vertreiben würde. Sie trügen
Schuld daran, dass die Literatur zum Sprachrohr der bürgerlichen
Mitte verkommen sei. Boris bekam glühende Wangen: "Du
Fritz, ich darf doch du sagen, bist da anders. Deinen Texten merkt
man noch an, wo sie entstanden sind. Am Rande der Gesellschaft.
Zwischen stillgelegten Zechen und begrünten Abraumhalden.
In Riechweite eines Großschlachthofs." Er nahm einen
Schluck Tee - der alte Beutel hatte noch etwas hergegeben - und
strahlte mich an. Ich grinste verlegen zurück.
"Literatur muss wieder zur gesellschaftlichen Kraft werden.
Wir müssen den Unterdrückten eine Stimme geben."
Boris hielt es kaum auf seinem Stuhl. Und ich fühlte mich
um ein Vierteljahrhundert zurückversetzt zu einem Treffen
unserer Gruppe vom "Werkkreis Literatur der Arbeitswelt",
bei es immer ähnlich geklungen hatte. Mittlerweile aber redete
Boris von "Zivilgesellschaft" und "Intervention".
Irgendwie hatte ich den Faden verloren. Dafür stieg eine
leise Hoffnung in mir auf. Vielleicht wollte der Literaturrevolutionär
mir nicht nur verbalen Honig ums Maul schmieren. Ein literaturbegeisterter
Millionär fiel mir ein, der sich vor Jahrzehnten eines armen
Heidedichters angenommen hatte. Sollte mir hier ähnliches
widerfahren? Verfügte Boris vielleicht auch über ein
Millionenerbe?
"... und darum haben wir uns gefragt", unangenehm riss
mich die Stimme aus meinen Gedanken, "ob du uns nicht unterstützen
könntest. Wir wollen nämlich eine Zeitschrift für
engagierte Literatur gründen. Das Megaphon soll sie
heißen. Leider haben wir überhaupt kein Geld, und das
Kulturamt rückt auch nix raus. Darum versuchen wir jetzt
Privatleute für die Sache zu gewinnen."
Ich weiß nicht, warum ich so ruhig blieb. Höflich bot
ich Boris eine weitere Tasse Tee an. Aber er befand sich schon
im Aufbruch. Fast unbemerkt hatte er mir einen Zettel mit seiner
Kontonummer in die Hand gedrückt. Ich starrte auf die Zahlenreihe,
während er seinen Anorak anzog. Und dann war er fort. Ich
aber saß am Küchentisch, weinte ein wenig und plante
einen Umzug nach Berlin-Neukölln.
|