Es gibt Tage, da fühle ich mich der Literatur
nicht gewachsen, und schon ein schmaler Erzählband vermag
mich zu paralysieren. Stundenlang verharre ich in solchen Fällen
vor meiner Werkbank, starre auf die unvollendeten Modelle und
lasse mir Sätze durch den Kopf gehen. Sätze wie "In
diesen Tagen wurde die Paranoia zu meinem ständigen Begleiter"
oder "Ich vermied Gespräche, weil sie Blickkontakte
unvermeidlich machten". Fröhlicher werde ich davon nicht.
Aber das ist ja auch nicht der Sinn der Sache. Vergnügen
zu verbreiten war wohl kaum die Absicht, in der Barbara
Pannes jene Erzählungen verfaßte, deren Bestandteile
mir nun nicht aus dem Kopf gehen wollen. ungebeten hat
die junge Autorin ihr Büchlein mit vier Erzählungen
genannt, in denen sie verstörte Figuren existentiellen Erfahrungen
aussetzt. Das bleibt nicht ohne Eindruck auf den Leser, und sofern
dieser sich auf die finstere Grundstimmung dieser Prosa einlassen
mag, wird er sich auch gerne ihren Verrätselungen widmen.
Mir selbst sind solche Geschichten im Moment nicht oberflächlich
genug, deshalb bin ich froh, daß der Postbote klingelt und
mir neben weiteren Büchersendungen die neue Ausgabe der satirischen
Zeitschrift "Titanic" in die Hände drückt.
Max Goldts Erinnerungen an ehemalige
Bundeskanzler und Bundespräsidenten bringen mich rasch auf
neue Gedanken. Da mich Satire mittlerweile oft langweilt, war
es bis vor kurzem nur Goldts nachdenkliche Kolumne, die mich an
meinem Abonnement festhalten ließ. Doch nun gibt es seit
einigen Ausgaben eine hübsche Rubrik mit kleinen Feuilletons
unter dem Titel "Vom Fachmann für Kenner", an der
ich ebenso großen Gefallen finde. Stilvolle Betrachtungen,
kluge Reflexionen und bescheidene Miniaturerzählungen, die
ihre Pointe bisweilen schamhaft verstecken, haben hier, inmitten
grellster Satire, ein Reservat gefunden und laden zur entspannten
Lektüre ein. Daß man sie bald darauf wieder vergessen
hat, mindert nicht ihre Qualität, im Gegenteil.
Natürlich bin ich froh, daß Autoren dies anders sehen.
Um zu verhindern, daß ihr Tagewerk dem Vergessen anheimfällt,
versammeln sie es gerne von Zeit zu Zeit in richtigen Büchern.
So ist das schriftstellerische Werk Max Goldts nahezu komplett
in gebundener oder kartonierter Form zugänglich. Gerade ist
ein neuer Sammelband erschienen, er heißt Der Krapfen
auf dem Sims und enthält außer Aufsätzen,
Tagebuchaufzeichnungen und Stellungnahmen aus den letzten drei
Jahren auch noch einige sehenswerte Beispiele aus Goldts Kollektion
obskurer Fotografien.
Weniger obskur als unscharf sind die Filmschnipsel, die der amerikanische
Avantgardefilmer Jonas Mekas in seinem
Buch Just like a shadow der Öffentlichkeit präsentiert.
Diese Fotogramme bestehen aus einer Folge von zwei bis drei Einzelbildern,
die Mekas aus seinen Filmen herausschneidet, vergrößert
und rahmt. Ursprünglich ging es dabei nur ums schnöde
Geld. 1983 brauchte Mekas dringend finanzielle Mittel, um das
Gebäude des Anthology Film Archivs renovieren zu lassen.
Ein japanischer Freund schlug vor, Einzelbilder aus Mekas' Filmen
zu reproduzieren und als Kunstwerke zu verkaufen. Nun fanden sich
zwar keine zahlungswilligen Interessenten für die Bilder,
doch der Filmemacher hatte Gefallen an seinem Tun gefunden. Und
tatsächlich gewinnen die aus ihrem Kontext gelösten
Bildfolgen eine ganz eigene dynamische Qualität, die sie
von herkömmlichen Fotografien unterscheiden. Mekas legt offenbar
Wert darauf, daß der Betrachter weiß, was er sieht,
auch wenn er es nicht zu erkennen vermag, und hat jedem Bild eine
kurze Erklärung beigefügt. Mein Lieblingsbild zeigt
die Unterschenkel von Yoko Ono und John Lennon.
Aber nun gilt es, rasch einen Blick auf die anderen Bücher
zu werfen, die mir die wohlmeinende Erker-Redaktion ins
Haus geschickt hat. Zwei Lyrikbände sind dabei, und wenn
die Autoren nicht Gernhardt und Rühmkorf
hießen, würde ich mir aus den beiden Büchern geschwind
eine hübsche Skulptur zusammenleimen. Denn wie heißt
es es bei Peter Rühmkorf so treffend: "Der Welt per
AIR MAIL/EILPOST auszurichten: / Die meisten Dichter / können
gar nicht dichten." Nun, die beiden Herren können's,
und sie zeigen ihre Kunstfertigkeit gerne vor. In gemeinsamer
Sache heißt das kartonierte Büchlein, in dem man
das Programm des bislang einzigen gemeinsamen Auftritts der beiden
Sprachvirtuosen auf der EXPO nachlesen kann. Am meisten freut
mich, daß diese Gedichte den, in der Lyrik der Gegenwart
eher verpönten, Reim zu verdienten Ehren kommen lassen. Denn
nur dieser vermag es, auf elegante Weise Gegensätzliches
zusammenzubringen, wie das von Gernhard nicht nur einmal benutzte
Reimpaar "begehrt / versehrt" sehr schön zeigt.
Das zweite, in blaues Leinen gebundene Bändchen versammelt
zehn "Hauptstadtgedichte", die Robert
Gernhardt während eines zehnmonatigen Berlinaufenthalts
verfaßt und adäquat illustriert hat. Diese Großstadtlyrik
demonstriert, daß in Deutschland die Provinz überall
ist, und das hat für mich etwas sehr Beruhigendes. Im Gegensatz
zum Berliner natürlich, der den Vorwurf des Provinzialismus
energisch mit einem Hinweis auf die fehlende Sperrstunde und die
große Zahl von Berlinern zurückweisen würde. Manchmal
schreiben Berliner sogar Aufsätze, in denen sie die Provinz
schmähen, ohne dabei zu ahnen, daß diese Schmähung
sofort auf sie zurückfällt. So ein Berliner ist der
Geschichtenerzähler Ahne, in dessen
erstem Buch Wie ich einmal die Welt rettete sich ein hämischer
Text mit dem Titel "Wie es gewesen wäre, wenn ich mal
in einer Kleinstadt geboren wäre" findet. Die Antwort
ist nicht schwer. Ziemlich schrecklich wär's gewesen. Dabei
gibt es kaum eine Geschichte in seinem Buch, die nicht auch bei
uns in Oer-Erkenschwick spielen könnte. Man müßte
nur Sätze wie "Morgens in der U-Bahn" durch "Morgens
im 236er Bus" ersetzen. Aber gerade deshalb lese ich immer
mal wieder gerne in Ahnes Buch.
Lieber sind mir allerdings Geschichten, wie sie der junge Bremer
Autor Martin Brinkmann erzählt,
Geschichten, denen alles Vorlaute oder Auftrumpfende abgeht. Dafür
werden sie von einer leichten, manchmal ironisch gebrochenen Melancholie
durchzogen, die den Leser unweigerlich in ihren Bann zieht. Ständig
ist der Ich-Erzähler unterwegs, doch er kommt nirgendwo an.
"Mein Kopf ist heiß", endet eine Geschichte. "Ich
muß zum Hauptbahnhof." Selten fand Orientierungslosigkeit
auf so präzise Weise ihren literarischen Ausdruck. Ich wünsche
Martin Brinkmann viele Leser und hoffe deshalb, daß sich
der Etikettenschwindel des Verlags, der diesen Erzählband
als Roman annonciert, auszahlt.
Mittlerweile ist es Nachmittag geworden, und ich merke an einem
leichten Zucken des linken Augenlids, daß es Zeit ist, die
Literatur ruhen zu lassen. Mein Hausarzt Dr. Eisenkolb hat mich
erst vorgestern gewarnt, daß er bei einem vermehrten Auftreten
von Lähmungszuständen nicht zögern werde, mich
für längere Zeit in ein Spital einzuweisen. Folgsam
setze ich mich also mit einer Tasse heißen Pfefferminztees
in meinen Fernsehsessel, greife zur Fernbedienung und überlege,
was eigentlich Gertrud Höhler so macht.
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