Fritz Müller-Zech 41
Die Kolumne
 

Es gibt Tage, da fühle ich mich der Literatur nicht gewachsen, und schon ein schmaler Erzählband vermag mich zu paralysieren. Stundenlang verharre ich in solchen Fällen vor meiner Werkbank, starre auf die unvollendeten Modelle und lasse mir Sätze durch den Kopf gehen. Sätze wie "In diesen Tagen wurde die Paranoia zu meinem ständigen Begleiter" oder "Ich vermied Gespräche, weil sie Blickkontakte unvermeidlich machten". Fröhlicher werde ich davon nicht. Aber das ist ja auch nicht der Sinn der Sache. Vergnügen zu verbreiten war wohl kaum die Absicht, in der Barbara Pannes jene Erzählungen verfaßte, deren Bestandteile mir nun nicht aus dem Kopf gehen wollen. ungebeten hat die junge Autorin ihr Büchlein mit vier Erzählungen genannt, in denen sie verstörte Figuren existentiellen Erfahrungen aussetzt. Das bleibt nicht ohne Eindruck auf den Leser, und sofern dieser sich auf die finstere Grundstimmung dieser Prosa einlassen mag, wird er sich auch gerne ihren Verrätselungen widmen.
Mir selbst sind solche Geschichten im Moment nicht oberflächlich genug, deshalb bin ich froh, daß der Postbote klingelt und mir neben weiteren Büchersendungen die neue Ausgabe der satirischen Zeitschrift "Titanic" in die Hände drückt. Max Goldts Erinnerungen an ehemalige Bundeskanzler und Bundespräsidenten bringen mich rasch auf neue Gedanken. Da mich Satire mittlerweile oft langweilt, war es bis vor kurzem nur Goldts nachdenkliche Kolumne, die mich an meinem Abonnement festhalten ließ. Doch nun gibt es seit einigen Ausgaben eine hübsche Rubrik mit kleinen Feuilletons unter dem Titel "Vom Fachmann für Kenner", an der ich ebenso großen Gefallen finde. Stilvolle Betrachtungen, kluge Reflexionen und bescheidene Miniaturerzählungen, die ihre Pointe bisweilen schamhaft verstecken, haben hier, inmitten grellster Satire, ein Reservat gefunden und laden zur entspannten Lektüre ein. Daß man sie bald darauf wieder vergessen hat, mindert nicht ihre Qualität, im Gegenteil.
Natürlich bin ich froh, daß Autoren dies anders sehen. Um zu verhindern, daß ihr Tagewerk dem Vergessen anheimfällt, versammeln sie es gerne von Zeit zu Zeit in richtigen Büchern. So ist das schriftstellerische Werk Max Goldts nahezu komplett in gebundener oder kartonierter Form zugänglich. Gerade ist ein neuer Sammelband erschienen, er heißt Der Krapfen auf dem Sims und enthält außer Aufsätzen, Tagebuchaufzeichnungen und Stellungnahmen aus den letzten drei Jahren auch noch einige sehenswerte Beispiele aus Goldts Kollektion obskurer Fotografien.
Weniger obskur als unscharf sind die Filmschnipsel, die der amerikanische Avantgardefilmer Jonas Mekas in seinem Buch Just like a shadow der Öffentlichkeit präsentiert. Diese Fotogramme bestehen aus einer Folge von zwei bis drei Einzelbildern, die Mekas aus seinen Filmen herausschneidet, vergrößert und rahmt. Ursprünglich ging es dabei nur ums schnöde Geld. 1983 brauchte Mekas dringend finanzielle Mittel, um das Gebäude des Anthology Film Archivs renovieren zu lassen. Ein japanischer Freund schlug vor, Einzelbilder aus Mekas' Filmen zu reproduzieren und als Kunstwerke zu verkaufen. Nun fanden sich zwar keine zahlungswilligen Interessenten für die Bilder, doch der Filmemacher hatte Gefallen an seinem Tun gefunden. Und tatsächlich gewinnen die aus ihrem Kontext gelösten Bildfolgen eine ganz eigene dynamische Qualität, die sie von herkömmlichen Fotografien unterscheiden. Mekas legt offenbar Wert darauf, daß der Betrachter weiß, was er sieht, auch wenn er es nicht zu erkennen vermag, und hat jedem Bild eine kurze Erklärung beigefügt. Mein Lieblingsbild zeigt die Unterschenkel von Yoko Ono und John Lennon.
Aber nun gilt es, rasch einen Blick auf die anderen Bücher zu werfen, die mir die wohlmeinende Erker-Redaktion ins Haus geschickt hat. Zwei Lyrikbände sind dabei, und wenn die Autoren nicht Gernhardt und Rühmkorf hießen, würde ich mir aus den beiden Büchern geschwind eine hübsche Skulptur zusammenleimen. Denn wie heißt es es bei Peter Rühmkorf so treffend: "Der Welt per AIR MAIL/EILPOST auszurichten: / Die meisten Dichter / können gar nicht dichten." Nun, die beiden Herren können's, und sie zeigen ihre Kunstfertigkeit gerne vor. In gemeinsamer Sache heißt das kartonierte Büchlein, in dem man das Programm des bislang einzigen gemeinsamen Auftritts der beiden Sprachvirtuosen auf der EXPO nachlesen kann. Am meisten freut mich, daß diese Gedichte den, in der Lyrik der Gegenwart eher verpönten, Reim zu verdienten Ehren kommen lassen. Denn nur dieser vermag es, auf elegante Weise Gegensätzliches zusammenzubringen, wie das von Gernhard nicht nur einmal benutzte Reimpaar "begehrt / versehrt" sehr schön zeigt.
Das zweite, in blaues Leinen gebundene Bändchen versammelt zehn "Hauptstadtgedichte", die Robert Gernhardt während eines zehnmonatigen Berlinaufenthalts verfaßt und adäquat illustriert hat. Diese Großstadtlyrik demonstriert, daß in Deutschland die Provinz überall ist, und das hat für mich etwas sehr Beruhigendes. Im Gegensatz zum Berliner natürlich, der den Vorwurf des Provinzialismus energisch mit einem Hinweis auf die fehlende Sperrstunde und die große Zahl von Berlinern zurückweisen würde. Manchmal schreiben Berliner sogar Aufsätze, in denen sie die Provinz schmähen, ohne dabei zu ahnen, daß diese Schmähung sofort auf sie zurückfällt. So ein Berliner ist der Geschichtenerzähler Ahne, in dessen erstem Buch Wie ich einmal die Welt rettete sich ein hämischer Text mit dem Titel "Wie es gewesen wäre, wenn ich mal in einer Kleinstadt geboren wäre" findet. Die Antwort ist nicht schwer. Ziemlich schrecklich wär's gewesen. Dabei gibt es kaum eine Geschichte in seinem Buch, die nicht auch bei uns in Oer-Erkenschwick spielen könnte. Man müßte nur Sätze wie "Morgens in der U-Bahn" durch "Morgens im 236er Bus" ersetzen. Aber gerade deshalb lese ich immer mal wieder gerne in Ahnes Buch.
Lieber sind mir allerdings Geschichten, wie sie der junge Bremer Autor Martin Brinkmann erzählt, Geschichten, denen alles Vorlaute oder Auftrumpfende abgeht. Dafür werden sie von einer leichten, manchmal ironisch gebrochenen Melancholie durchzogen, die den Leser unweigerlich in ihren Bann zieht. Ständig ist der Ich-Erzähler unterwegs, doch er kommt nirgendwo an. "Mein Kopf ist heiß", endet eine Geschichte. "Ich muß zum Hauptbahnhof." Selten fand Orientierungslosigkeit auf so präzise Weise ihren literarischen Ausdruck. Ich wünsche Martin Brinkmann viele Leser und hoffe deshalb, daß sich der Etikettenschwindel des Verlags, der diesen Erzählband als Roman annonciert, auszahlt.
Mittlerweile ist es Nachmittag geworden, und ich merke an einem leichten Zucken des linken Augenlids, daß es Zeit ist, die Literatur ruhen zu lassen. Mein Hausarzt Dr. Eisenkolb hat mich erst vorgestern gewarnt, daß er bei einem vermehrten Auftreten von Lähmungszuständen nicht zögern werde, mich für längere Zeit in ein Spital einzuweisen. Folgsam setze ich mich also mit einer Tasse heißen Pfefferminztees in meinen Fernsehsessel, greife zur Fernbedienung und überlege, was eigentlich Gertrud Höhler so macht.

 

Barbara Pannes: ungebeten. Erzählungen. 84 Seiten. Unser Verlag. Hannover 2000. 14,80 DM.

Max Goldt: Der Krapfen auf dem Sims. Betrachtungen, Essays etc. 175 Seiten. Alexander Fest. Berlin 2001. 29,80 DM.

Jonas Mekas: Just like a shadow. 224 Seiten mit 156 Abbildungen. Göttingen 2001. Steidl. 58,00 DM.

Robert Gernhardt / Peter Rühmkorf: In gemeinsamer Sache. Gedichte. 89 Seiten. Haffmans. Zürich 2001. 20,00 DM.

Robert Gernhardt: Berliner Zehner. Hauptstadtgedichte. 63 Seiten. Haffmans. Zürich 2001. 29,00 DM.

Ahne: Wie ich einmal die Welt rettete. 160 Seiten. Kiepenheuer & Witsch. Köln 2001. 15,50 DM.

Martin Brinkmann: Heute gehen alle spazieren. Roman. 156 Seiten. DVA. Stuttgart/München 2001. 29,80 DM.