Der Geruch von Sägemehl liegt in der Luft
und reizt mich zum Niesen. Seit fast vier Stunden schon sitze
ich vor dem Bildschirm eines Uralt-Computers und durchsuche die
Festplatte nach Dateien, die Rezensionen des seit einigen Tagen
spurlos verschwundenen Fritz Müller-Zech enthalten könnten.
Bislang bin ich kaum fündig geworden; außer ein paar
Gedankensplittern, in denen sich vor allem Abscheu gegenüber
dem Literaturbetrieb zu artikulieren scheint, fand sich unter
dem Namen "Herbstneuerscheinungen 2000.doc" buchstäblich
nichts. Deshalb sitze ich hier mit inzwischen rot unterlaufenen
Augen am Monitor, rauche Müller-Zechs übelriechende
Zigarillos und öffne eine Datei nach der anderen.
Genau eine Woche ist es her, da erreichte die Am-Erker-Redaktion
eine Postkarte, auf der die lapidaren, mit FMZ unterschriebenen
Zeilen "Bin für ein paar Wochen weg. Suche zwecklos.
Schlüssel unter Fußmatte" zu lesen waren. Nun
war also das eingetreten, was in der Redaktion seit langem befürchtet
worden war. Das Verschwinden des Modellfliegers kam nämlich
nicht überraschend. Zum einen hatte er seit Wochen davon
geredet, daß er endlich Zeit brauche, um die ca. 130 Folgen
der Western-Serie "Bonanza" anzuschauen, die er vor
Jahren aufgenommen hatte. Zum anderen hatte sich bereits in der
letzten Folge seiner Kolumne ein gewisser Überdruß
bemerkbar gemacht. In einem penetranten Nörgelton wurde da
von den vielen Neuerscheinungen berichtet, die ihm der Paketbote
ins Haus trüge und die für erheblichen Platzmangel in
der Werkstatt sorgten. Auch in seinem Urteil über die wenigen
Bücher, die Müller-Zech dann doch gelesen zu haben schien,
wirkte er noch bissiger und ungnädiger als sonst. Und nun
war er verschwunden. Zu einem Zeitpunkt, da es in der Erker-Redaktion
sowieso drunter und drüber ging, weil die Bücherschau
ihrer Fertigstellung harrte.
Der Anruf erreichte mich, als ich gerade damit beschäftigt
war, einen großen Topf schlecht gewordenen Heringssalates
zu entsorgen. Verzweifelter hatte Deggerichs Stimme selten geklungen.
Sofort sollte ich ins Ruhrgebiet fahren und Müller-Zechs
Werkstatt auf den Kopf stellen. Mindestens fünf Rezensionen
seien zugesagt gewesen, die schließlich irgendwo zu finden
sein müßten. Deshalb also sitze ich hier und ruiniere
mein Augenlicht. Natürlich besteht auch die Möglichkeit,
daß der Computerdilettant direkt mit Disketten gearbeitet
hat, ohne eine Datei auf der Festplatte anzulegen. Das wäre
ihm ohne weiteres zuzutrauen. Ich stehe auf und sehe mich in der
Werkstatt um. In zwei Ecken stehen immer noch ungeöffnete
Pakete. Wie konnte es nur dazu kommen, daß ein durchaus
bibliophiler Mensch wie Müller-Zech die Wonnen des Rezensentenlebens
nicht mehr goutieren konnte? Für mich gibt es noch immer
nichts Schöneres, als Büchersendungen zu öffnen.
Als erstes greife ich mir ein handliches Suhrkamp-Päckchen.
In einer wunderschönen Ausgabe von Walter
Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert lese
ich mich sofort fest. Besonders gut gefällt mir der Text
"Wintermorgen", in dem von einer wunscherfüllenden
Fee die Rede ist, die es für jeden gebe. Der Wunsch des Kindes,
das der Erzähler einmal gewesen war, lautete: "ausschlafen
können". Und er ging wirklich in Erfüllung, nur
auf andere Weise, als es sich der Erzähler vorgestellt hatte.
So dauerte es lange, bis er die Fee darin erkennt, daß "jedesmal
die Hoffnung, die ich auf Stellung und ein sicheres Brot gehegt
hatte, umsonst gewesen war". Ich kann mir in diesem Augenblick
direkt vorstellen, wie sich der kleine Müller-Zech einmal
wünschte, mit dem Lesen von Büchern sein Geld verdienen
zu können.
Übrigens verkaufte sich dieses Buch, als es 1950 im ersten
Jahr des Suhrkamp Verlages und zehn Jahre nach dem Tod des Autors
veröffentlicht wurde, zunächst gar nicht gut. Wahrscheinlich
hatte die im gleichen Jahr erschienene einbändige Ausgabe
von Hesses Glasperlenspiel weitaus mehr Erfolg, wie ja
überhaupt das Werk dieses Autors zu jenen Grundpfeilern gehört,
die die ökonomische Basis des Verlages ausmachen. Wie Suhrkamp
in den fünfzig Jahren seines Bestehens deutsche Literaturgeschichte
geschrieben hat, kann ich nun im zweiten Buch des Päckchens
nachlesen, das die Verlagsgeschichte Jahr für Jahr
nachzeichnet. Hier finde ich, im Jahr 1976, auch die bemerkenswerten
Worte eines Rezensenten, der von einem gerade erschienenen Roman
eines namhaften Autors sagt, es lohne sich nicht, "auch nur
eine einzige Seite dieses Buches zu lesen". Ein Satz, den
ich Müller-Zech in seinem augenblicklichen Zustand auch zutrauen
würde. Aber um diesen Verdacht zu überprüfen, müßte
ich erst einmal die Rezensionen finden.
Ich lasse meine Blicke schweifen und erblicke, nein, keine Disketten,
sondern mehrere, offenbar noch ungelesene Exemplare der "Anderen
Bibliothek", die sich auf einem Tischchen stapeln. Schlimme
Ehen liegt ganz oben, und der Titel reizt mich ungemein, bestätigt
er mich doch in meinem Junggesellendasein. Andererseits scheinen
die Herausgeber dieser Anthologie eine durchaus glückliche
Ehe zu führen. Ganz anders als zum Beispiel die Tolstois,
deren Tagebücher ausgiebig Zeugnis von den Schrecknissen,
die der Ehestand mit sich bringen kann, ablegen. Leo Tolstoi:
"Die Entzweiung mit meiner Frau hat sich nicht verschlimmert,
das kann man nicht mehr sagen, aber sie ist vollkommen."
Sonja Tolstaja: "Manchmal empfinde ich gegen meinen Mann
- gegen seinen Körper - einen starken Widerwillen und das
ist deprimierend. Aber vor allem kann ich mich nicht an den Schmutz,
an den Geruch gewöhnen". Das Inhaltsverzeichnis verspricht
weitere interessante Beiträge aus der Welt- wie auch der
Provinzliteratur, vom Alten Testament bis Ilona Christen. Ich
stecke das Buch kurzerhand in meine Reisetasche, packe noch den
Benjamin dazu und forsche weiter. Eigentlich beneide ich Müller-Zech.
Lesen, basteln, fernsehen und ab und an mal ein paar Zeilen schreiben,
was für ein Leben. Wenn ich an die Tage denke, da ich müde
und nach Fritierfett riechend in meine Mansarde schlich, um dann
an der alten Olympia-Monica der Literatur die Ehre zu erweisen.
Aber nun müssen die Disketten her, sonst wird im nächsten
Erker Müller-Zechs schneidende Boshaftigkeit vermißt
werden. Da sehe ich direkt neben einem halbfertigen Modellflugzeug
ein dickes Buch in einem bläulichen Umschlag; Burkhard
Spinnens Essaysammlung Bewegliche Feiertage. Sogar
mit einem Lesezeichen versehen. "Autor und Kritiker"
heißt der Text, für den sich der Verschollene interessiert
hat, ein Vortrag, den Spinnen bei einem Seminar junger Literaturkritiker
hielt. Und welchen Satz hat sich Müller-Zech hier unterstrichen:
"Daher sind Kritiken, die sich lesen wie die Begründung
eines Warenumtauschs oder eines Reiserücktrittes, nach meinem
Dafürhalten unnötig." Ja, das hat gesessen. Müller-Zech
nimmt es nämlich immer sehr persönlich, wenn ihm ein
Buch nicht behagt, ja, er kann regelrecht wütend werden.
So sachlich wie beim Verfassen einer Mängelrüge geht
es da nicht zu. Ich bin froh, den Band hier entdeckt zu haben,
der neben Unveröffentlichtem eine Reihe von Aufsätzen
enthält, die ich gerne wiederlesen möchte, darunter
vor allem jene, die sich mit der Populärkultur beschäftigen.
Selten nämlich findet man einen Schriftsteller, der sich
nicht nur kritisch, sondern auch kenntnisreich mit Programmzeitschriften
und Fernsehshows auseinanderzusetzen vermag. Also kommt auch der
Spinnen in die Tasche.
Als ich gerade dabei bin nachzuschauen, was der Hanser Verlag
in diesem Herbst Schönes zu bieten hat, höre ich ein
Klingeln. Es ist der Postbote, und er bringt eine Ansichtskarte,
auf der Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer, abgebildet
sind. Die beiden machen Werbung für die Deutsche Bahn, auf
die ich nach der Zugfahrt von der Ostseeküste ins Ruhrgebiet
gar nicht mehr gut zu sprechen bin. Unter den Werbetext gequetscht,
der die Hälfte der Rückseite einnimmt, finden sich folgende
Sätze. "Vierfrucht, such nicht länger. Eine Diskette
mit Rezensionen liegt im Arzneimittelschränkchen neben dem
Bild der Cartwrights." Und tatsächlich, zwischen Aspirin,
Mullbinden und Nagellackentferner findet sich das rosafarbene
quadratische Ding. Ich verstaue es sorgfältig neben den Büchern,
verlasse die Werkstatt und schließe die Tür ab. Den
Schlüssel lege ich unter die Fußmatte. Dann renne ich
los, denn der Zug nach Münster fährt in einer halben
Stunde, und bis zum Bahnhof ist es noch weit.
Johannes Vierfrucht, Reservekolumnist
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