Am Erker 34

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Fritz Müller-Zech
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Am Erker - 20 Jahre
Die frühen Jahre. Ein Blick in alte Zeitschriften
Fritz Müller-Zech
 

Zwanzig Jahre gibt es "Am Erker" inzwischen, für eine Literaturzeitschrift eine unglaublich lange Zeit, wie die "Erker"-Senioren nicht müde werden zu betonen. Dann beginnen sie meistens von den Pionierzeiten zu erzählen, als "Am Erker" noch eine radikale alternative Literaturzeitschrift war. Nun ist so ein Jubiläum ja ein schöner Anlaß, einmal nachzuprüfen, wie revolutionär "Am Erker" in den späten siebziger Jahren wirklich war. Einfach war es nicht, an die ersten Ausgaben zu gelangen. Doch nach längerem Suchen fand sich in einer Ecke des Redaktionsbüros ein verstaubter Standordner mit vergilbten Heftchen im Din-A-5-Format, und nun liegen sie vor mir, die sagenumwobenen "Erker" der Siebziger.

Das erste Heft erschien im Dezember 1977 und gibt definitiv Aufschluß darüber, wie die Zeitschrift an ihren Namen gekommen ist. Hier findet sich nämlich Friedhelm "Fiffi" Hüwes cut-up-Text auf der Grundlage von Kafkas Amerika: "Am Erker", der mit dem kühnen Satz "In New York war das Meer rohes Fleisch" beginnt. Der Autor hatte mit den "Erker"-Gründern Feldmann und Kofort die kurzlebige Literaturzeitschrift "Der Maiskolben" betrieben und war 1977 unter rätselhaften Umständen ums Leben gekommen.

Ansonsten präsentiert das 28 Seiten starke Heft, das übrigens nur 50 Pfennige ("im Straßenverkauf durch die Herausgeber") kostete, Agit-Prop-Lyrik ("Genossen, Genossinnen, Brüder und Schwestern / hört mich"), sogenannte Spontantexte ("Eine Seite voll!"), neusensible Gedichte und viel Programmatisches. Schließlich wollte "Am Erker", so die gemeinsame Erklärung der Herausgeber aus Lünen und Emsdetten, "Literatur nicht als Fetisch, sondern als instrumentalen Bestandteil des politischen/ alltäglichen Lebens darstellen". Ins gleiche Horn bläst der junge Dieter M. Gräf, mittlerweile preisgekrönter Vertreter der lyrischen Avantgarde bei Suhrkamp: "Ich schreibe, weil ich mich wehren will, weil ich Angst habe, daß die Kette aus dampfender Luft, die fein geschmiedet um meinen Hals liegt, mich erdrückt." Gräf gehört auch zu den beiden Gewinnern (und Teilnehmern) eines merkwürdigen Lyrikwettbewerbs um das beste Ostergedicht, den das "Erker-Kollektiv" unter dem Charles Bukowski-Motto "Ich bin ein großer Dichter, ja Scheiße, das einzige Große an mir sind meine Eier" veranstaltete.

Bemerkenswert ist auch das aus heutiger, durch moderne Computertechnologie verwöhnte Sicht hundsmiserable Layout des ersten "Erker". Der Schreibmaschinensatz ist teilweise unleserlich, und Tippfehler wurden von den sorglosen Redakteuren handschriftlich korrigiert. Zwischen die Texte klebte man, wahrscheinlich aus dem 2001-Merkheft, ausgeschnibbelte Bilder aus Robert-Crumb-Comics oder Selbstgemaltes. Schließlich zählte für das "Erker-Kollektiv" der Inhalt und nicht die Form, wie in der Rezension eines Gedichtbandes betont wird: "ich finde, daß 9,80 dm für ein buch mit 100 seiten einfach zu teuer sind, vielleicht hätte man mit weniger aufwand und rationellerer seitenaufteilung das buch preiswerter machen können. auf manchen seiten ist nur ein gedicht abgedruckt. der rest der seite ist weiß." (Man beachte die radikale Kleinschreibung.) In der gleichen Besprechung artikuliert sich Skepsis, was die Haltbarkeit von Gedichten zu aktuellen politischen Themen angeht, eine Kritik, die der Autor des Lyrikbandes, Werner Schlegel, im folgenden Heft vom Frühjahr 1978 sofort als tendenziell reaktionär entlarvt.

Auch in den nächsten Ausgaben ging es mächtig politisch zu. Junge antimilitaristische Dichter verarbeiteten ihre Zeit bei der Bundeswehr, andere träumten davon, als Biene die Vertreter der Staatsgewalt zu piesacken oder klagten generell das Schweigen angesichts des Elends in der Welt an.

"Am Erker" Nr. 3 ziert ein ziemlich unappetitliches Photo einer Kunstschlachtung des Wiener Aktionisten Hermann Nitsch mitsamt einem passenden Gedicht von Joachim Hohmann, "Der bauer hat die sau gestochen / jetzt hängt sie blutend in der tür / ..." Im Heft selbst finden sich ein schöner Text von György Dalos, "Wien, September 1964" und erstmals Gedichte des späteren Mitherausgebers Rudolf Gier, die dieser während des Schulunterrichts geschrieben hatte.

Im Frühjahr 1979 erschien mit der Ausgabe 5 ein ziemlich sauber produziertes Heft. Diesmal stammten das Illustrationsmaterial weitgehend aus der "Peking-Rundschau". Die Bilder dienten wohl hauptsächlich dazu, weiße Flächen zu verhindern, ein Bezug zu den Texten ist nicht zu erkennen. Das Editorial widmet sich vor allem der Korrektur von Druckfehlern in der vorhergehenden Ausgabe, während im Heft eine große Debatte über die Aufgabe alternativer Literaturzeitschriften tobt, ausgelöst durch einen Beitrag des späteren TAZ-Redakteurs (und heutigen Privatfernsehmanns?) Benedict Mülder in der Nummer 4, der befand, es gebe nicht nur "zu viele, die richten und henken in diesem Land, sondern auch deshalb zu viele, die dichten und denken". Und die jungen Dichter geben sich revolutionär wie gewohnt. "Ästhetik?", ruft der Autor Helmut Blepp, "Darum geht es nicht mehr vorrangig." Die Aufgabe einer Literaturzeitschrift sei, die Sprache als Waffe einzusetzen, wogegen Peter Beicken nüchtern feststellt: "Unsere Gedichte holen keinen Richter oder Henker vom Stuhl."

Mit der Herbstausgabe des gleichen Jahres erscheint zum ersten Mal ein Themenheft. "Männer und Schönheit" lautet das provokante Motto, und auf der Titelseite prangt - gleichsam als Kontrastprogramm - in martialischer Pose Franz-Josef Strauß. Friedhelm Wenning, damals Mitherausgeber und Drummer in der redaktionseigenen Band "Apostel Gäng", konnte nach der Lektüre von Hunderten apokalyptischer Gedichte nur noch mit seiner Parodie "An die Dichter des Grauens", die mit der bemerkenswerten Zeile "Grausam graute der Morgen des Grauens" beginnt, reagieren. Schließlich waren es damals nur noch wenige Jahre bis 1984, und Strauß schickte sich an, Kanzler zu werden, was Gerd Steier zu einem Aufruf an den Widerstand inspirierte. Die Nr. 6 war die letzte Ausgabe der siebziger Jahre. Die Achtziger begannen mit einer zünftigen Krise beim "Erker-Kollektiv", die Herausgeber Feldmann, wie er noch heute gerne erzählt, überwand, indem er im Alleingang die Doppelnummer 7/8 zusammenklebte, während der Rest des Kollektivs im sonnigen Süden weilte. Aber das ist eine andere Geschichte.