Am Erker 76

Vladimir Nabokov: Pnin. Erstausgabe 1957
Vladimir Nabokov: Pnin.
Erstausgabe 1957

Vladimir Nabokov: Pnin. Deutsche Erstausgabe 1960
Pnin. Deutsche
Erstausgabe 1960

Vladimir Nabokov: Professor Pnin. Deutsche Taschenbuch-Erstausgabe 1952
Professor Pnin.
Deutsche Taschenbuch-
Ausgabe 1979

Vladimir Nabokov: Pnin. Ausgabe 1994
Pnin. Ausgabe der
Gesammelten Werke, 1994

 
Essays
Pnin
Gisela Trahms
 

Ach, Sieger und Helden! Wen interessieren denn die? Und sollten sich ihre Erfolgsgeschichten gut verkaufen, bleibt der Ruhm des Autors umso zweifelhafter. Das Herz des wahren Lesers gehört den Verkannten und Verlierern. Mag er ihnen im wirklichen Leben auch eher ausweichen, ihre Geschichte liest er gern, da es seine eigene ist.
Ein bisschen Mystik darf die Erzählung ausstrahlen, aber keine Belehrung. Ihre Zeit kann längst vergangen sein, an Analogien zu den täglichen Nachrichten wird es dennoch nicht fehlen, auch wenn sie im satten Frieden eines vermeintlich unschuldigen Landes spielt, wo Schmetterlinge flattern und Grauhörnchen durch den Park hüpfen.
Der Protagonist, ein Russe gutbürgerlicher Herkunft, ist als junger Erwachsener ins Exil geflohen, sein Leben folgt fortan den Mustern der Migration. Armut, Heimweh, Einsamkeit wird er nie wieder los. Doch obwohl er sein Schicksal mit Millionen teilt, durchbricht Timofey Pawlowitsch Pnin die demütigende Anonymität des Unglücks auf einzigartige Weise, weil er von einem einzigartigen Schriftsteller beatmet wird, und das ist eine Gnade.
Zum ersten Mal begegnen wir Pnin in einem Zugabteil. Nach einer Odyssee durch halb Europa lehrt er seit ein paar Jahren Russisch an einem obskuren College in den USA. So sieht er aus: kahler Schädel, Schildpattbrille, muskulöser Oberkörper, schwache Beine, "enttäuschend" feminine Füßchen. Alter: Anfang fünfzig. Du liebe Güte! Um trotzdem Neugier zu wecken, gibt der Erzähler schon auf der zweiten Seite "ein Geheimnis" preis: Der Herr Professor sitzt im falschen Zug. Ach! Haben wir es nicht geahnt? Und nun? Lächeln? Seufzen? Beides?
Ein bescheidenes Geheimnis ist das, dem eine komische und herzzerreißende Situation nach der andern entspringt. Pnin, der einmal Hoffnungen hegte und zu Hoffnungen Anlass gab, hat sein ganzes Leben in falschen Zügen verbracht. Bürgerkrieg, Revolution, Weltkrieg, Faschismus und ein zweiter Weltkrieg trieben ihn bis nach Waindell, eine schläfrige Stadt in Amerikas Osten. Er schafft die Einbürgerung, doch die Sprache der neuen Heimat wird er niemals beherrschen: "Also, zeigen Sie mir, wo ist publikes Telephon?"
Als junger Mann liebte er die sanfte Mira, aber die Weltgeschichte trennte sie, bevor er seine Liebe gestehen konnte. In Paris verliebt er sich in eine Schöne namens Lisa und bleibt ihr treu, obwohl sie ihn auf übelste Weise hintergeht und ausnutzt. Mira hat braune Augen, Lisa wasserblau schillernde. Mira ist warmherzig, Lisa kalt und grausam bis ins Mark. Aber ihre Namen klingen ähnlich, und beider Augenpaare haben die gleiche, lockende Form: nicht rund, sondern "gestreckt". Also was: klare Trennung von Gut und Böse oder doch eine Ähnlichkeit, irgendwie und rätselhaft und besser nicht bemerkt, da sie verwirrt? Und wer muss die Entscheidung treffen und unser Urteil lenken?
Der Erzähler natürlich, der hier als "reale" Person auftritt, sich viele Male vordrängt und "Ich" trompetet, während er Pnins Leben und Charakter nach und nach in sieben Kapiteln enthüllt und kommentiert wie ein souveräner Biograph. Er behauptet, Pnin seit Kindertagen zu kennen und zu schätzen, außerdem gleicht ja das eigene Schicksal dem des Freundes. Doch kann dieser Erzähler unmöglich so komplett wissen, was zu wissen er vorgibt, manchmal lügt er sogar. Und zu allem Überfluss heißt er Vladimir Vladimirowitsch N., als handle es sich um den Autor Nabokov selbst. Über das, was N. dem armen Pnin im Laufe der Geschichte antut, redet er nur in Andeutungen, trotzdem steht er zum Schluss in nackter Schäbigkeit da, indes der als schrulliger Pechvogel verspottete Pnin feste Wurzeln in den Herzen der Verständigen geschlagen hat. Wie es dem Autor gelingt, sich in der eitel-beschränkten Erzählerfigur selbst bloßzustellen und sein Geschöpf wachsen und leuchten zu lassen, ist ein Mirakel.
Recht besehen, gleicht Pnin einem Heiligen, weshalb jetzt besser keine Aufzählung seiner Taten und Eigenschaften folgt. Heiligkeit befremdet, und muss der Heilige nicht fromm sein? Pnin ist es nicht. Als er im Sommer einmal mit seinem Kollegen Chateau in einem Flussbecken baden will und die Kleidung ablegt, zeigt sich allerdings, dass er ein russisches Kreuz an einem Kettchen um den Hals trägt. Er hängt es an einen Zweig, worauf Chateau ihn warnt, er werde es verlieren.
"'Vielleicht hätte ich gar nichts dagegen, es zu verlieren', sagte Pnin. 'Wie Sie ja wissen, trage ich es nur aus sentimentalen Gründen. Und das Sentiment wird eine Last. Schließlich hat so ein Versuch, einen Teil der eigenen Kindheit in Hautkontakt mit dem Brustbein zu bewahren, etwas viel zu Körperliches.' - 'Sie sind nicht der erste, der den Glauben zu einem Gefühl auf der Haut reduziert hat,' sagte Chateau, der ein praktizierender russisch-orthodoxer Christ war und die agnostische Einstellung seines Freundes bedauerte."
Agnostizismus heißt: Gott in Frieden lassen, da man nichts über ihn wissen kann. Statt ein theologisches System zu entwerfen und es anderen aufzudrängen, beschränkt sich der Agnostiker auf ein bescheidenes Schulterzucken. Von der Welt, so wie sie ist, lässt sich nicht auf Transzendenz schließen. Pnins Jugendfreunde wurden erschossen; Mira, der er noch einmal in den dreißiger Jahren in Deutschland begegnet, wird ins KZ deportiert und ermordet. Bilder ihrer Qualen suchen Pnin heim, er stellt sich Todesarten vor und verdrängt sie, um weiter leben zu können. Was soll da ein Gott? Der einzige aufrichtige amerikanische Freund, den er in Waindell findet, bezeichnet bei nächtlicher Betrachtung den Sternenhimmel und das Universum als "ein heilloses Kuddelmuddel", um fortzufahren: "Ich vermute, es ist in Wahrheit ein fluoreszierender Leichnam, und wir stecken drin."
Pnin gehört zu den Geretteten, die ihr Lebensfünkchen noch eine Weile schützen können. In Waindell darf er der pninischen Gelehrsamkeit frönen und sich zum "glücklichen, fußnotentrunkenen Wahnsinnigen" entwickeln. Von Kollegen und Studenten verlacht, gleichzeitig unklar gemocht, da gutherzig, belebt er als unerschöpflicher Quell komischer Anekdoten das monotone College-Leben. Schließlich gelingt es dem Lärmempfindlichen sogar, ein ruhig gelegenes Häuschen zu entdecken, und weil er sich Hoffnungen auf eine feste Anstellung macht und sparsam lebt, will er es kaufen.
Doch der Erzähler hat bereits im ersten Kapitel kundgetan, "für Happy-Ends nichts übrig" zu haben, denn "Unglück ist das Normale." Eine Auffassung, die Pnin wohl teilen würde, da sie ein Glück im Verborgenen immerhin nicht ausschließt. Er, der keine Botschaft zu verkünden hat und an Ewiges zu denken meidet, ist die Wanderungen durch die Völker herzlich satt. Als Apostel der Gottesferne lodert sein Flämmchen für ihn allein, was ihm genügt. Dennoch kreist seine Geschichte um ein Mysterium, das sich spät und unverhofft materialisiert. Lisa, die Bösartige, hat sich von einem windigen Psychologen namens Erich Wind schwängern lassen und ein Kind zur Welt gebracht, dessen Unterhalt sie Pnin aufbürdet. Als der vierzehnjährige Victor zum ersten Besuch bei Pnin anreist, herrscht kalte Nacht, der Regen schüttet und die Missverständnisse durchblitzen ihr Gespräch im Minutentakt. Trotzdem beginnt das Flämmchen zu flackern und wird nie erlöschen. Pnin hat einen Sohn gefunden.
Eines Tages übersendet ihm Victor ein großes Paket, in dessen mehrfacher Hülle eine Überraschung ruht: "Die Schale, die zum Vorschein kam, war eines jener Geschenke, deren erster Eindruck im Geist des Empfängers ein farbiges Bild hervorruft, einen mit einem Wappen versehenen undeutlichen Schimmer, der das liebenswürdige Wesen des Schenkenden mit solcher Symbolkraft widerspiegelt, daß sich die greifbaren Attribute des Gegenstands in dieser reinen inneren Glut auflösen ..."
In solchen etwas pompösen, aber doch bezwingenden Sätzen offenbart sich der Schöpfer Nabokov, der diesem einzigen Geschöpf jene Fürsorge angedeihen lässt, die er anderen Romanfiguren verweigert. Als großer, wenn auch nur irdischer Zauberer lässt er Pnin einen Gral zuteilwerden, wenige Tage, bevor dieser eine "Hauserhitzungsparty" gibt und das gläserne Gefäß für einen fabulösen Punsch nutzt. Der Abend gelingt. Als die Gäste gegangen sind, macht sich der Gastgeber an den Abwasch, taucht die Schale ins Becken, hört ein Klirren - sein Herz stockt, mit ihm das des Lesers.
Keine weiteren Spoiler. Die Szene bereitet das Ende der Geschichte vor. Vladimir Vladimirowitsch N. ist ans Waindell College berufen worden, und Pnin, der nie mehr etwas mit diesem falschen Freund zu tun haben will, ergreift die Flucht. An einem Wintermorgen bricht er, wiederum heimatlos, in seinem klapprigen kleinen Auto ins Ungewisse auf, "die schimmernde Straße hinan", die "sich zu einem goldenen Faden verengte". Wir bleiben zurück, ungetröstet getröstet, und glauben, während wir das Taschentuch schwenken, im Dunst über den Hügelketten ein Flämmchen zucken zu sehen.

Vladimir Nabokovs Roman Pnin erschien 1957 in den USA und war ein maßvoller Erfolg; innerhalb weniger Wochen wurden zwei weitere Auflagen gedruckt. Die zwei Jahre vorher in Paris veröffentlichte Lolita, die den Autor reich und berühmt machte, überschattete in Europa die Rezeption von Pnin. In seiner Mischung von Komik und Schwermut fand Timofey Pawlowitsch dennoch Leser, die ihr Herz an ihn verloren und diesen Roman für Nabokovs besten hielten. Sein Schöpfer starb 1977 in Montreux. Er gönnte Pnin in Fahles Feuer einen zweiten Auftritt als Leiter einer eigenständigen Russisch-Abteilung an einem größeren College: ein bezweifelbares, aber sehr erleichterndes Ende nach dem Ende. Einmal im Leben muss Gerechtigkeit herrschen.