Krachkultur 24 widmet sich der Familie und steckt unvermeidlicherweise voller Erinnerungen, Drama, Liebe, Hass, Abhängigkeiten, Dysfunktionalität und auch Komik. Überragend darin der Beitrag "Endlich wieder" von Cihan Acar (*1986 in Heilbronn), ein Auszug aus einem im Entstehen begriffenen Roman. Eine Frau liegt allein am Pool, reich, gelangweilt, und wechselt dann doch ins kleinstädtische Freibad, wo sich die Massen drängen und sie viele Leute wiedersieht, die sie seit Kindertagen kennt und deren Geschichten flüchtig angerissen werden. Unvermittelt sagt eine Frau zu ihr: "Du elende Mörderbraut", und natürlich bricht der Text da ab. Zwar hat er nichts von einem Krimi, doch er changiert herrlich beunruhigend. Die Welt wird so überklar beschrieben – das verblassende X zweier Kondensstreifen vor tiefblauem Himmel! –, dass dahinter Gewalt, Tod und Schrecken lauern müssen. Die seltsam stillgestellte Szenerie von Edward Hopper-Bildern drängt sich auf, aber auch Robby Müllers großartige Kameraarbeit für Wim Wenders. In diesem Text ist eine bedrohliche Tiefe, die der Glasklarheit seiner Oberfläche spottet. Cihan Acar ist ein Ästhet von Rang, wie er in seinem Debütroman Hawaii eindrucksvoll bewiesen hat, und wird sicher eine packende Geschichte erzählen - in einem Ton, einer Tonlage, die sie unvergesslich machen und das Geschichtenerzählen übersteigen, transzendieren wird. Und wie schön ist es, beim Lesen zu schweben, getragen vom sanften Aufwind des Stils, der die Flügel unterfängt, die die Worte wachsen lassen.
Doch dieser Almanach der Literaturagentur Brinkmann (viele Beiträger:innen jedenfalls sind bei Martin Brinkmann unter Vertrag) bietet noch weitere Schätze: Die Südtirolerin Maxi Obexer (*1970) erzählt von einem Tuschkasten, den der Zwillingsbruder der Zwillingsschwester einst an die Stirn pfefferte, und von den Folgen, die ihr Schweigen über die wahren Hintergründe dieser Aggression für die ganze Familie hatte. Dea Geršak begegnet in "Diamantpark" einem unsympathischen alten Mann, der Spatzen füttert und gleich darauf wieder verschwunden ist, genau wie die Spatzen, die es dort sonst nicht gibt. Wann wird er, wann werden andere Gestalten der Erzählerin wiederbegegnen, und werden auch diese Begegnungen so mystisch-alltäglich sein? Auch Zoë Jenny ist mit einem Auszug aus ihrer Autobiografie vertreten, der ihre frühe Kindheit betrifft. Jenny (Das Blütenstaubzimmer, 1997) ist als Kritikerin pädagogischer Experimente der alternativen Szene der 80er Jahre bekannt, und die traumatisierenden Erfahrungen, die sie als Tochter des Schweizer Verlegers Matthyas Jenny in "Friendly Fire" schildert, erscheinen wie eine Beglaubigung ihrer Positionen am eigenen Leib.
Schreibheft 105 widmet sich dem Film und nimmt zunächst den belgischen Filmemacher Eric de Kuyper (*1942), dessen Kindheitserinnerungen An der See 2024 in der Übersetzung von Gerd Busse bei Wagenbach erschienen sind, und die Regisseurin Chantal Akerman (1950-2015) in den Blick, die seit den späten 60er Jahren vielfach und intensiv zusammengearbeitet haben. Neben amüsanten und dekuvrierenden Anekdoten aus der Filmwelt von Los Angeles in den späten 70er Jahren besticht vor allem Esther Kinskys Essay "Eine Reise ins Herz des Schweigens. Chantal Akermans D'Est". Der Film versammelt Eindrücke, die die Regisseurin Anfang der 90er Jahre bei mehreren Reisen gen Osteuropa in 16 mm aufgezeichnet hat. Kinsky bekennt: "D'Est ist mein Lieblingsfilm von Chantal Akerman, vielleicht wegen der Abwesenheit von Sprache. Er lehrt sehen, das Hinschauen, ohne die Distanz, die Vergegenwärtigung der Fremdheit des Blicks aufzugeben." Bewundernswert, wie Kinsky allein mit Worten einen Film aufs Plastischste zu evozieren vermag, der schweigend allein vom Schauen handelt.
Ein Großmeister der Evokation von Filmen mit den Mitteln der Filmkritik war der US-Amerikaner James Agee (1909-55). Sven Koch hat einige seiner berühmtesten Besprechungen in ein strahlendes, funkelndes Deutsch übertragen und ein instruktives Nachwort zu diesem Schriftsteller verfasst, der als Romancier, Essayist, Drehbuchautor (Die Nacht des Jägers) und Filmkritiker brillierte und mit nur 45 Jahren in New York an einem Herzinfarkt starb. Es sind Enthusiasmus für seine Gegenstände, Entdeckerlust, Freude an mitreißendem, populärem Schreiben, was den Agee‘schen Texten ihren Schwung verleiht, zumal seinen großen Essays über Stummfilmkomödien (von Chaplin, Keaton, Lloyd und Langdon) und über John Huston (für dessen African Queen Agee das Drehbuch lieferte). |