Der Treichel-Sound, den zu charakterisieren ich gar nicht erst versuche, gehört für mich zu den schönsten Sirenengesängen der Gegenwartsliteratur, und ich habe zwar nicht alle, aber viele Bücher des Autors verschlungen. Erfreulich darum, dass Text + Kritik 241 Hans-Ulrich Treichel gewidmet ist. Das O-Ton-Entree ist großartig: "Gesänge vom Guadalquivir", der Anfang einer unnachahmlich missglückten Reise nach Andalusien, nur gut zwei Seiten Text. "Die Verse Lorcas im Ohr und die Stimme Machados auf der Zunge landete ich auf dem Flughafen Málaga", beginnt hochgemut, was rasch in eine inbrünstig verkniffene, hochkomische Schilderung spanischer Spuckgewohnheiten übergeht, um nach einem so brutalen wie dilettantischen Stierkampf, der an den Schluss von Carlos Sauras Frühwerk Los golfos (Die Straßenjungen) von 1960 gemahnt, in melancholischem Furioso zu enden: "Guadalquivir, Guadalquivir sagte ich mir, und es tauchten in meinem Kopf und vor meinen Augen die vielen Nächte meiner Jugend auf, in denen ich im Ostwestfälischen wachgelegen war und Gedichte gelesen hatte, Gesänge vom Guadalquivir." So singen nur Sirenen!
Leider bemühen sich viele im Heft versammelte Literaturwissenschaftler:innen und Autor:innen vergeblich, auf diesen Gesang mit einem auch nur halbwegs beglückenden Gegengesang zu antworten. Der enttäuschende Eindruck verdankt sich primär der allzu insistierenden Beschäftigung mit Treichels Best- und Longseller Der Verlorene und dessen Variationen Menschenflug und Anatolin, während so großartigen Romanen wie Der irdische Amor und Mein Sardinien, die sich wechselseitig spiegeln, zu wenig Beachtung geschenkt wird. Und noch etwas wird gleich mitverschenkt: die Untersuchung der Frage, was den großen Variationskünstler Treichel eigentlich ausmacht. Warum erzählt er die gleiche oder doch eine ähnliche Geschichte zwei-, gar dreimal mit bezeichnenden Unterschieden in Perspektive, Handlungsverlauf, Details? Weil ihm sonst nichts einfällt? Sicher nicht! Worin besteht der so spürbare, aber schwer zu fassende Mehrwert dieses Verfahrens? Diese Fragen aus den Texten zu beantworten, bleibt das Heft weitgehend schuldig.
Ulrike Vedders Beitrag "Genus mediocre. Interpassives Erzählen in Hans-Ulrich Treichels Roman 'Schöner denn je'" sei von dieser Schelte indes ausgenommen. In leichtfüßigem Erzählton und mit präziser Argumentation lässt sie uns begreifen, was uns ergreift, wenn wir (nicht nur) diesen Roman von ihm lesen. Vedder beobachtet "wohltemperiertes Erzählen" in "mittlerer Stillage"; Treichels Ich-Erzähler arbeite "zwar an seiner Selbstbehauptung, allerdings an einer schmerzlosen; entsprechend dimmt er Neid und andere Affekte und sucht – gegen Passion und Begehren, aber auch gegen Verzweiflung und Katastrophe – stetig im genus mediocre zu verharren." Und kurz darauf: "Anders gesagt: Spannungsvermeidung durch opportunistische Harmonie, Reflexionsabbruch, Auf-der-Stelle-Treten." Die Folge: Der Ich-Erzähler "interpretiert unausgesetzt das (Nicht-)Geschehen zu seinen Gunsten – nicht zuletzt, um im 'Lebenswettbewerb' endlich etwas Land zu gewinnen." Der Kunstgriff dabei: "die Delegation des Genießens durch einen interpassiven Akteur", die Lustgewinn schafft, beim Erzähler, wie dessen "redseliger Selbstrechtfertigungstrieb" zeigt, aber auch bei den "Leser:innen des gewitzten Romans". Der große Lesegenuss von Schöner denn je verdankt sich, wie Ulrike Vedder zudem schlüssig nachweist, nicht zuletzt dem Umstand, dass der Autor sein Publikum zu Mitverschworenen macht. Mit der Romaneröffnung "Ich habe nie jemandem davon erzählt" ist die Bühne aufgeschlagen für eine rasante Reise ins Mediokre.
Ganz anders seit jeher Emine Sevgi Özdamar, deren Bücher großen Gefühlen bemerkenswert ungeschützt Raum bieten, wobei die Autorin Autofiktionalität und Bilder von berauschender poetischer Klarsicht wie selbstverständlich zusammenbringt, was ihre Leser und Leserinnen Nebelwände des Entzückens durchschweben und hinterher klarer sehen lässt. Mein Lieblingsbuch von ihr: Seltsame Sterne starren zur Erde (2003), in dem sie ihre Zeit im Wedding und in Pankow 1976/77 beschreibt, als sie als türkische Staatsbürgerin in Westberlin wohnte und bei Benno Besson am Berliner Ensemble als Regieassistentin arbeitete, tägliche Grenzübertritte eingeschlossen, zum Glück ohne Zwangsumtausch. Dass es einen regen Austausch zwischen Ost und West gab, nicht nur die Biermann-Ausbürgerung und das privilegierte Dasein von Reisekadern, habe ich bei dieser Lektüre erstmals empfunden, nicht mehr nur abstrakt 'gewusst'. Özdamar hat mir fast fünfzehn Jahre vor meinem Aufbruch ins ehemalige Ostberlin erstmals ein Gefühl dafür vermittelt, dass Ost- und Westberlin, die DDR und die BRD tatsächlich zusammengehören. Aber eben auch anders sind. Ein Buch, das in Ost und West unbedingt mehr Leser finden sollte, weil es trotz seines zunächst spröde anmutenden Gegenstands ins Herz der Verhältnisse zielt.
An dieser Stelle zur Lektüre von Ein von Schatten begrenzter Raum zu ermuntern, hieße nach dem Büchner-Preis 2023, Honig nach Istanbul zu tragen. Doch Emine Sevgi Özdamar hat Ende November letzten Jahres die Siegfried Unseld-Vorlesung gehalten und dafür aus dem Umkreis des Romans und einmal mehr aus ihrer Biografie geschöpft. Ihre Rede "Die Zeit anhalten" in Spritz 249 ist ein kleines Meisterwerk, in dem sie mit leichter Hand ihre großen Themen versammelt, das doppelte Exil, das (Über-)Leben in den Räumen Literatur und Theater, das Mitgefühl, das sie stets in große Bilder und Beschreibungen zu fassen weiß. Wer für diese dreizehn Seiten Weltliteratur die Spritz nicht eigens kaufen mag, gehe ins Internet, gebe "Unseld", "Özdamar" und "Videothek" ein, überspringe die Vorreden und beginne bei 25:25 – es folgt eine beseligende Dreiviertelstunde.
Jahrzehntelang hatte Axel Helbig beim Dresdner Ostragehege den Hut auf, nun hat er sich aus der Redaktion zurückgezogen; Ulf Großmann, Sachse im Exil (in Fuchstal bei Landsberg am Lech), ist für ihn nachgerückt. Noch gegen Ende der Helbig-Zeit hat sich die Zeitschrift einen Relaunch gegönnt, kommt nicht mehr auf schwerem Hochglanzpapier daher. Und die neue grafische Gestaltung überzeugt: Statt mitunter anstrengender Zweispaltigkeit fast nur noch eine Spalte, dafür auch mal großzügig Platz, damit das Auge sich auf Oasen der Leere von seinen Zügen durch spannende Bleiwüsten erholen kann. Beibehalten wurde der Mix aus Prosa, Lyrik und Autor:innengesprächen, und weiter wird ein Künstler oder eine Künstlerin vorgestellt.
Sehr unterhaltsam in Ausgabe 112: Bertram Reineckes Beitrag zum Caspar David Friedrich-Jahr. Überall wird einem CDF gegenwärtig gnadenlos aufs Auge gedrückt, unausgesetzt zumal in seiner Geburtsstadt Greifswald, und so ist es ein Genuss, den Lyriker, Prosaisten, Essayisten und Verleger Reinecke (Reinecke & Voß) in die Rolle eines kunstbeflissenen Biedermeier-Pfahlbürgers schlüpfen zu sehen und ihn geharnischte Kritik am Dilettantismus seines Zeitgenossen Friedrich üben zu hören, brieflich natürlich, zeitgemäß mithin. Wie wird er da gerupft von einem Pedanten ohne Kunstverstand, was alles wird ihm in heuchlerischer Großmut verzeihend vorgeworfen, wie munter entlarvt sich der Philister, wie tapfer aber stellt Reinecke zugleich sein Wissen über die Romantik und den großen Friedrich aus! Köstlich, auch in den absichtlichen Verschreibungen. So ist einmal im Zusammenhang mit dem optischen Phänomen des Regenbogens (schwer zu malen, CDF, zugegeben, aber soooo schwer nun auch wieder nicht) von "Abberationen" die Rede: Hoho, hieß er nicht Ernst Abbe, der Mitgründer von Carl Zeiss Jena? Womit auch der Rezensent en passant sein Universalwissen unter Beweis gestellt hätte. Hochunterhaltsam also und versponnen selbstironisch, dieser Text des aus der Barlach-Stadt Güstrow stammenden Reinecke.
Nun aber auch noch mein Beitrag zum CDF-Jahr, denn ohne geht's ja nicht: Alt und jung aus fern und nah, besucht das Romantik-Museum in Frankfurt am Main! Das gibt es noch nicht lange, das liegt direkt neben dem Goethe-Haus und dem Freien Deutschen Hochstift, das hat 36 Multimedia-Erlebnisstationen, und die meisten sind toll! Als Romantik-Fan war ich schon zweimal drin, jeweils stundenlang, und ich lege allen die Station zur Entstehung von Robert Schumanns Szenen aus Goethes Faust ans Herz, wegen der traumschönen Musik, logisch, aber auch, weil die Werkgenese mit neuen Mitteln der computergestützten Darstellung bannend plausibel und faszinierend dokumentiert wird. Oder man verliere sich in Armgart von Arnims Huldigungsarabeske auf den Spuren der Feenhuldigung von Titania und Oberon – gibt es ein himmlischeres Wimmelbild? Doch ich will letztlich auf etwas anderes hinaus, auf die Station, die einen Beitrag von Clemens Brentano und Achim von Arnim zu CDFs "Mönch am Meer" in einer Ausstellung 1810 dokumentiert, einen Text, den Kleist für seine Berliner Abendblätter rüde zusammengekürzt hat, dessen Original aber Besucherreaktionen des Unverständnisses auf dieses Bild überliefert. Reineckes Brief scheint eine Antwort auf dieses ironische Kabinettstück zu sein. |