Wer in Ostragehege 108 nach dem eingehenden, ja opulenten und fast obligatorischen Schriftsteller:innen-Interview sucht, bei dem Redakteur Axel Helbig seinen Gesprächspartner:innen von souveräner Kenntnis des Gesamtwerks zeugende Fragen stellt, wird diesmal nicht fündig und stutzt. Auch wenn der Rezensent zugeben muss, nur selten die Energie aufgebracht zu haben, diese Gespräche von A bis Z zu lesen: Hineingelesen hat er immer, mal mit Gewinn, mal mit leisem Kopfschütteln. Diese Gespräche sind zweifellos ein Herzstück der Zeitschrift, und es steht sehr zu hoffen, dass sie auch in den kommenden Ausgaben zum Markenkern und unverzichtbaren Inventar gehören.
Uwe Kolbe beglückt mit dem Katalog-Gedicht "Woher ich alles habe", einer Hommage zumal an Tschechien, seine Flüsse und Menschen, die fast als poetisches Pendant zu einem Verzeichnis der ostmitteleuropäischen und osteuropäischen Essayfilme von Volker Koepp gelesen werden kann, für deren Bildgestaltung meist Thomas Plenert verantwortlich war, der im Juli erst 72-jährig verstorben ist: "Ich habe es von der Morava, von den stummen Worten der Fische. / Ich habe es von der Vltava, die Lieder und Wein mit der schlanken Labe teilt. / (…) / Ich habe es von der Jizera, wandernd unter den Winden, vom Apothekersohn im Tal des Krkonoše, der uns die alten Rezepturen übersetzte, aber nicht alle. / (…) / Ich habe es aus Ústí nad Labem, von dem Paar in der Koje, bald werden sie Eltern, von dem Dampfer, der einmal Libussa hieß und abgewrackt wird, von der Leere der Ufer, die ziehen vorbei. / (…)"
In Spritz 245 äußert sich Ernst Osterkamp in einer Festrede zum 100. Geburtstag von Walter Höllerer, dem Gründer der Zeitschrift. Zumindest das erste Drittel des langen Vortrags mit dem wegen seiner etwas erschöpfenden Wirkung fast ironisch anmutenden Titel "Federleicht, dynamisch und flexibel" ist ausgesprochen lesenswert, denn es widmet sich der Faszination, die vom Wiesel Höllerer auf den jungen Osterkamp ausging, nicht nur der Theorie der modernen Lyrik wegen, sondern auch, weil Höllerer den ambitionierten Studiosus früh als Beiträger (zu Robert Walser und Paul Scheerbart) entdeckte und förderte. Von dieser Zeit berichtet der unterdessen zu einer Eminenz der Germanistik herangereifte Osterkamp eitel und uneitel zugleich, und es ist vor allem diese womöglich unkalkuliert unentschiedene Sprechhaltung, die den Reiz seines Beitrags ausmacht, der so auftrumpfend wie bescheiden daherkommt.
Da wir uns schon auf der Meta-Ebene befinden: Auch Hannes Bajohr vollführt in seinem der leidigen KI gewidmeten Beitrag "Artifizielle und postartifizielle Texte" einen Seiltanz – oder nagelt er einen Pudding an die Wand? Jedenfalls spürt er den "Auswirkungen Künstlicher Intelligenz auf die Erwartungen an literarisches und nichtliterarisches Schreiben" (so der Untertitel seines Aufsatzes) nach und schlägt sich dabei erstaunlich gelassen und letztlich durchaus erfolgreich mit mehreren fatalen Darstellungsproblemen herum: mit der wohl zu Recht vermuteten Unwissenheit seines Zielpublikums, was dieses IT-Thema angeht, einer Ignoranz, die so manche Erklärung erforderlich macht; mit dem galoppierenden Tempo der technischen Entwicklung, das analytische Bemühungen prompt unter der Lawine des IT-Fortschritts begräbt (gibt es ihn noch, den Benjamin'schen "Engel der Geschichte", oder ist auch er – obwohl schon Albtraum genug – längst in den Strudeln der entfesselten Beschleunigung (zumindest im KI-Bereich) untergegangen?); schließlich mit den daraus folgenden Schwierigkeiten, auch nur vorsichtige Prognosen zu wagen. Bajohrs smarter Taschenspielertrick: Er beschwört die Möglichkeit herauf, dass sein Text nicht authentisch, sondern mithilfe von ChatGPT entstanden ist, und führt als wesentliches Kriterium künftiger Lektüren das Vertrauen der Lesenden in die Authentizität des Entstandenen ein, aber lassen sich nicht auch die Bedingungen der Möglichkeit dieses Vertrauens durch technische Tricks um- oder hintergehen? Schwierige, lastende Fragen.
Wie schön deshalb, dass es die Krachkultur gibt, deren 23. Ausgabe sich einer Himmelsmacht widmet, der Liebe. Der südkoreanische Romancier und Drehbuchautor Cheon Myeong-kwan (*1964) erzählt in seiner eingängigen und doch sehr schlauen, berührenden Erzählung "Neunzehn" eine Coming of Age-Geschichte, dreißig Seiten, die vom ersten Satz an packen: "Es war Anfang Frühling, und ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, jeden Morgen um neun mit dem Fahrrad zu einem Musikcafé neben der U-Bahnstation zu fahren." Die Geschichte löst die Verheißung dieses ersten Satzes ein, denn Bildkraft und inszenatorisches Vermögen ihres Autors bewegen sich auf der Höhe der großen südkoreanischen Filmregie-Leistungen der letzten Jahre und Jahrzehnte, man denke nur an Bong Joon-hos Parasite (2019), an Lee Chang-dongs Burning (2018) oder an Kim Ki-duks Frühling, Sommer, Herbst, Winter … und Frühling (2003).
Von Südkorea nach Westfalen: Dirk Bernemann hat in seinem 2021 bei Heyne Hardcore erschienenen, von Kritik und Publikum weitgehend unbeachteten Roman Schützenfest der Region eine herrlich böse Beschreibung gewidmet, die indes auch den Erzähler, der mit dem Autor sicher manches gemein hat, nicht ungeschoren lässt. Das Setting, allen Filmfreund:innen in Münster und dem Münsterland aus Ulrich Schamonis Alle Jahre wieder (1967) wohlbekannt, ist nicht totzukriegen und gebiert stets aufs Neue tolle Geschichten, zuletzt Thorsten Nagelschmidts Roman Der Abfall der Herzen (2018). Auch bei Bernemann, der schon lange in Berlin nahe der Oberbaumbrücke zu Hause ist, kehrt der Erzähler zurück in die lange hinter sich gelassene Provinz, in ein Dorf im Landkreis Borken, und die Provinz greift nach ihm, was manches Ungeheuer gebiert. Ungerührt, tragikomisch und auf gespenstische Weise unterhaltsam sind diese Schützenfesttage beschrieben. Ich neige dazu, Bernemann mit dem Generationskollegen Nagelschmidt, der ebenfalls Musiker ist, schreibt, in Berlin lebt (freilich aus Rheine kommt, doch dort ist die Gravitationskraft von Münster ja immens), aber auch mit den Großmeistern einer früheren Generation, mit Otto Jägersberg und Norbert Johannimloh, zu einer Westfälischen Quadriga zu vereinen, für die es in Münster – so viel architektonischer Ehrgeiz muss sein – dringend ein Literarisches Siegestor zu errichten gilt.
Warum aber breche ich diese Lanze für den viel zu unbekannten Bernemann? Weil er in der Krachkultur den schnoddrigen, abgründigen, zudem kurzen, knackigen Essay "Die Abschaffung der Liebe" stehen hat, in dem er ganz nebenbei den vollmundigen Marketingbegriff "Einsteigerriesling" schleift. Auch Rudolf Proske schließlich (vgl. die Zeitschriftenschau im 82. Erker) ist mit einem auf Bukowski-Pfaden lustwandelnden Gedicht vertreten, mit "Olympia", einer Liebeserklärung an seine alte Schreibmaschine: "Das ist sie, / aufgetaucht aus den Umzugskisten, / die legendäre Olympia mit dem gnadenlosen 'O', / die mit mir die Absteigen durchgemacht hat, / auf der ich den 'Jack' geschrieben habe, / hinter der die Vermieter her waren, / wenn ich im Mietrückstand war, / die mir durch manche dunkle Nacht / geholfen hat, als ich dem Wahnsinn näher war / als dem nächsten Morgen, / die mit mir manche Liebesbeziehung ausgehalten hat, / geduldig am Küchentisch wartete, / bis ich wieder in Form kam, / mir wieder was einfiel, / und nichts forderte, / aber immer bereit, / gnadenlos ihr 'O' ins Papier zu / schlagen, ehrlich und ohne / Schnörkel, kompromisslos / wie ein 45er, / Patronen zu Worten formte, / manchen Nachbar um den Schlaf / brachte, / während wir Liebeserklärungen an geplatzte / Träume schickten, / ihnen eine Art Unsterblichkeit verliehen, / sie wie leuchtende Kometen / ins Universum schickten." |