Das von Dagmar Leupold herausgegebene Heft 2/2022 der Akzente zum Thema "Spielräume" lässt argwöhnen, dass das Schreiben über solche Räume ihnen prompt den Garaus macht. Lesenswert aber der Beitrag "Spielraum? Spielraum!" von Mamadou Oury Barry (*1990), der 2013 nach der Flucht aus Guinea übers Mittelmeer nach Deutschland kam, in ein Flüchtlingslager in Wallersdorf (Niederbayern). Was er in einfacher, dankenswerterweise nicht durch ein Lektorat aufgehübschter Sprache berichtet, ist das Gegenteil von Spiel: Kinderarbeit in bedrückenden Verhältnissen in einem kleinen Dorf in Guinea, später in der Hauptstadt Conakry, wo er als Kind und Jugendlicher neben der Schule in einer Autowerkstatt schuftet; ein ernstes Kind sei er schon früh gewesen, denn Spielen habe er nicht gedurft, wegen Zeitmangel auch nicht gekonnt. Mit kaum zwanzig Jahren macht er sich als Kleiderhändler selbständig, doch sein Geschäft brennt nieder, später wird er verleumdet und verhaftet, noch später plündert ein Mob seinen Laden, und er wird übel zusammengeschlagen. Warum der Zorn sich gegen ihn richtet, erfahren wir nicht, können aber vermuten, dass es mit seiner Herkunft aus Sierra Leone (von wo er mit der Familie vor dem Bürgerkrieg fliehen musste) und mit religiösen Spannungen zusammenhängt, verschärft durch Neid auf den erfolgreichen jungen Geschäftsmann. Der sich in einer Flüchtlingsunterkunft wiederfindet, zu fünft in einem Zimmer auf einem bayerischen Dorf mit Fenster zum Schweinestall, ohne Aussicht auf Sprachunterricht, Schule, Arbeit, Einkommen, geduldet und von Abschiebung bedroht. Wieder sind es stoischer Fleiß und großer Ernst, die den immer noch jungen Mann trotz widriger Bedingungen neu anfangen lassen, unterstützt von ehrenamtlichen Integrationshelfer:innen und der ISuS- und der SchlaU-Schule München, die er trotz eines elend langen Anfahrtswegs besucht. Inzwischen lebt der Autor in Berlin, seinem Sehnsuchtsziel. Nein, von Spielräumen ist in diesem Text kaum die Rede, sondern davon, wie man sich lebenswerte Räume erkämpft, erarbeitet, erschafft. Um irgendwann vielleicht darin zu spielen. Sofern man das noch zu lernen vermag. Eine eindringliche Flüchtlingsgeschichte.
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"Das Politische der Literatur 2", so lautet das Thema von die horen 285. Michael Eggers widmet sich darin anhand von Virginie Despentes' Das Leben des Vernon Subutex, Heinz Strunks Der goldene Handschuh und Annie Ernauxs Der Platz dem Paradox, dass auch ein noch so empathisches Erzählen vom unteren Rand der Gesellschaft ein Reden über Menschen bleibt, die in aller Regel nicht lesen, was da Anklagendes, Aufrüttelndes, zu Widerstand Aufforderndes oder kühl Analytisches geschrieben steht. Eggers begeistert sich für Autofiktionen, die "literarisch unverstellt von den Erinnerungen an das eigene Leben unter schwierigen Bedingungen erzählen" und von Autobiografien wie Romanen zu unterscheiden seien. Mustergültig erscheint ihm das Buch von Ernaux, es sei "nicht nur eine persönliche, sondern auch eine poetologisch programmatische Stellungnahme gegen die Einkapselung von Lebensläufen in fiktionalen Narrativen, die den Formgesetzen der Belletristik folgen". Entscheidend sei "die Sensibilität, mit der schon das junge Mädchen die Dinge wahrnimmt, an denen sich die soziale Differenz zwischen Arbeiter und Bürger, Land und Stadt spüren lässt". Ernaux beschreibe "Grenzziehungen, die sich mit steigendem Bildungsniveau verfestigen und bis in die Familie hinein fortsetzen", wo sich keine gemeinsame Sprache finde, um darüber zu reden, "wie auch, denn die Sprache selbst ist ja die hermetischste Grenze von allen". Schlimm genug, so Eggers, "dass es des Erfolgs und der Werbung ihres männlichen Kollegen Didier Eribon (Rückkehr nach Reims) bedurfte", damit die schon lange in Frankreich erfolgreiche Autorin auch in Deutschland reüssierte.
Ein schönes Beispiel für autofiktionales Erzählen liefert Manja Präkels gleich im Anschluss an Eggers mit "Die Zeichen von den Wänden kratzen", angesiedelt, wo schon ihr autobiografisch grundierter Roman Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß spielte: in der brandenburgischen Provinz der Wendezeit. "Die ikonische Fotografie über ihrem Bett betrachtend", heißt es dort, "träumt das Mädchen davon, zu sein wie die Frau auf dem Bild. Schreiben, wie die ihr Gewehr trägt, das zielt auf Spaniens Himmel. Ihr Blick geht ins offene Du." Voilà!
Und wohl dem Autor, der unter Kollegen Freunde wie Sabine Peters und Jochen Schimmang hat. Beide haben Hermann Kinder (1944-2021), in dessen Debüt Der Schleiftrog das Studium im Münster der 60er Jahre eine gewichtige Rolle spielt, berührende Nachrufe gewidmet, die von großer Nähe und Verbundenheit zeugen.
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Was gibt es von der Autorenwerkstatt 2021 im LCB zu berichten, deren Teilnehmer:innen traditionsgemäß Auszüge ihrer Arbeit in spritz veröffentlichen? Mit Roman Kaiser-Mühlecker war ein Beiträger aus Erker 74 dabei, doch erlegen bin ich dem erlesen trashigen Charme von Christian Hödls Romanauszug "Kalorien und Glorien". Sein Held stümpert antriebsschwach und von vielerlei Süchten gebeutelt in Leipzig herum, und dann kommt noch seine anstrengende Mutter zu Besuch – das ist sehr witzig erzählt, ein Pageturner geradezu und mitunter an Sven Regener erinnernd, ohne ihn indessen nachzuahmen. Nach sieben Seiten ist leider Schluss: ein Appetit machendes, lustvoll erzähltes, entzückend queeres Häppchen! Eher in der Tradition von Annie Ernaux steht dagegen "Was ich zurückließ" von Marco Ott, dessen Erinnerungston mir sofort unter die Haut gegangen ist, weil er die Bereitschaft des Erzählers und mit ihm des Autors zu nahezu ungeschützter Trauerarbeit zeigt: "Ich denke oft an die Monatsenden, an denen wir gebratene Nudeln zu Abend aßen. Du gabst dir alle Mühe bei der Zubereitung, Pa, und verfeinertest sie mit Zwiebeln und Gewürzen, so dass es mir gar nicht vorkam wie eine Entbehrung. Sie schmeckten fast so gut wie die Nudeln vom China-Imbiss, die du nachzumachen versuchtest." |