Zum 95. Geburtstag von Dagmar Nick druckt spritz neue Gedichte der Autorin, die zu den bedeutendsten Lyrikerinnen ihrer Generation gehört: berührendes Abschiednehmen, gefasst, unsentimental, unbekanntem Neuem zugewandt. Schon von 2008 indes "Gewiß, auch München": "Wurzellos und keinem / Stück Heimaterde verpflichtet, / mit Gauklern gezogen, das / Feuer unter den Füßen. / Auf den Märkten von Akko / zeitweilig zuhause. Alle Häfen / waren am schönsten beim Lichten / der Anker, wenn die Trossen / für einen Moment das Wasser / berührten und der Geruch / von Schmieröl und Tang zerstob / im schmetternden Fahrtwind. Jede / Trennung ein neues Versprechen. // Aber gewiß, auch diese Stadt / ist zu lieben und schön / zu vergessen, wenn der Föhn / über den Bäumen am Eisbach die / weißen Kondensstreifen ins Blaue / schießt und ich weiß: dort oben / fliegen sie fort, abschiedslos, / ohne Wurzeln." Eine intensive Begegnung mit der Dichterin ermöglicht der von der Monacensia, dem Münchner Literaturarchiv, ins Netz gestellte Film "Dagmar Nick: 'Gedichte kommen oder kommen nicht'", der im Rahmen des Programms #femaleheritage produziert wurde, mit dem das Archiv den Frauenanteil seiner Bestände stärken und Schriftstellerinnen sichtbarer machen will. Was Nick in vierzig Minuten von ihrem Leben (ihre Mutter galt den Nazis als "Halbjüdin") und Schreiben erzählt, hat Vermächtnischarakter und großes Charisma und wirkt trotz aller Disziplin entspannt und heiter.
Zudem widmet Michael Braun dem im Sommer 2019 verstorbenen Peter Hamm einen einfühlsamen Nachruf, ohne dass dessen beigegebene Gedichte aus den 50er und 80er Jahren mich sonderlich für Hamm als Lyriker eingenommen hätten. Er habe sich mehr als Dichter denn als Literaturkritiker begriffen, referiert Braun, und doch wird er wohl als sensibler Interpret eher in Erinnerung bleiben, etwa mit seiner Spurensuche zu Ingeborg Bachmann 1980 für den WDR. Ich habe Hamm 2018 in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste erlebt, als er zum 50. Todestag Georg von der Vrings - Dichter aus dem Oldenburgischen, der 1968 in die Isar ging - einen elegischen Vortrag hielt, in dem er die etwas gedrechselt anmutenden Verse zumal durch seine empathischen Kommentare zu spätem, mattem Nachfunkeln brachte, ihnen einen Glanz verlieh, der wohl zum Großteil aufs Konto des Vortragenden ging. Ein rührender Liebesdienst des altgedienten Kritikers war das, vor schütterem, überwiegend greisem Publikum im Königsbau der Münchner Residenz in einem großen Saal geleistet. Hamm hat seinen Vortrag ohne Rückgriff auf von der Vrings bekanntestes Gedicht "In der Heimat" ("An der Weser, Unterweser / Wirst du wieder sein wie einst.") gehalten, das vor einigen Jahren von Wolfgang Herrndorf wie von Per Leo an prominenter Stelle ihres Schaffens platziert wurde. Dass er gerade dieses eingängige, sehr melancholische Gedicht, das Aussicht hat, seinen Verfasser (als vielleicht einziges) lange zu überleben, womöglich auch aus Selbstschutz unerwähnt ließ, darf immerhin gemutmaßt werden, endet es doch so: "Und die Sterne, sieben Sterne / Stehn im Fenster blass wie einst, / Und noch immer ruft's von ferne, / Und du weißt nicht was, wie einst" (zitiert nach Per Leo: Flut und Boden).
Enttäuschend leider, was die horen 281 zum Schwerpunkt "Ohne Publikum" bieten. Immerhin unterhalten sich Thorsten Nagelschmidt (Nagel) und Jan Brandt auf Distanz über Online-Leseerfahrungen ohne Publikumsreaktionen, zunächst über Nagels Premierenlesung aus seinem Roman Arbeit Ende April 2020 im Festsaal Kreuzberg, moderiert von Jörg Sundermeier, dann über ein Lesungsgespräch, das Brandt und Nagelschmidt Mitte Juni 2020 in Münster im "Gleis 22" - laut Nagel einer der besten deutschen Musikklubs - geführt haben, bei brüllender Hitze und auf Nagel-Seite mit Weißwein und blutendem Nagelbett. Jan Brandt als perfekt vorbereiteter Overperformer, Nagel als darob zwischen Be- und Entgeisterung schwankender Autor: Das ist selbst im Heft noch lustig, lohnt aber insbesondere lange Blicke ins Netz, zumal Arbeit (erschienen bei S. Fischer) erneut ein erstklassiges Buch ist und den süffigen Rheine-Roman Der Abfall der Herzen von 2018 womöglich noch übertrifft. Dass dank Corona Lesungen und Literaturgespräche teils mustergültig und ohne Gäste aufgezeichnet wurden, die früher "nur" undokumentiert vor Publikum stattgefunden hätten, also im Orkus versunken wären, darf womöglich mit einem Schuss Zynismus als Krankheitsgewinn der Pandemie verbucht werden.
In BELLA triste 59 plaudern Jörg Sundermeier und Kristine Listau bemerkenswert locker via Zoom mit Redaktionsmitgliedern der Hildesheimer Zeitschrift über ihren Verbrecher Verlag: So progressiv, feministisch und queer muss m/w/d erst mal rüberkommen! Sehr lesenswert auch Arpana Aischa Berndts Romanauszug Tropical, der in die baulichen Abgründe einer pseudo-thailändischen Wellness-Oase in Brandenburg und zugleich in psychische Abgründe führt, die mit der Erzählerin weiter zu erkunden sich lohnen dürfte.
Zwei Zeitschriftenjubiläen sind zu melden, zunächst die 100. Ausgabe von Ostragehege, die auf 218 großformatigen Seiten sehr viele Autor:innen aus fünfundzwanzig Jahren versammelt. Der Truppe um Axel Helbig gelingt ein schönes Panorama vielfältigster lyrischer wie prosaischer Beiträge etwa von Monika Rinck, Marcel Beyer, Uwe Kolbe, all das zusammengestellt wohl unter dem Motto "Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen". So verführt das Heft eher zu blätterndem Verweilen als zu seriöser Lektüre: ein menschenfreundliches Angebot. Sehr gefallen hat mir Franz Hodjaks tiefschürfende Erkenntnis: "Für Kraniche ist Flandern / eine Heimat unter andern." Orgelnd dagegen Durs Grünbein in "Spreekanal": "Die Augen tränen vor Kälte. Unterm Eisregen blitzt / der Walzstahl Fluß zwischen gemauerten Ufern. / Alles ist eingeschmolzen: die Pappeln, Platanen, / Weiden, die ihre Angelruten ins Wasser tauchen. // Historische Wasser, aus vielerlei Zeiten legiert, / mit Toten gefüttert, Revolutionen, von Industrie satt. / Gleichgültig fließen sie an Lagerhallen, Fabrikruinen, / neuen Reihenhäusern vorbei von Schloß zu Schloß."
Auch SigiGötz-Entertainment (SGE), ein primär den Untiefen des deutschsprachigen Genrekinos gewidmetes Fanzine von Ulrich Mannes, feiert ein Jubiläum, das 20-jährige Bestehen. Es wurde vom Tod eines langjährigen Mitarbeiters überschattet: Der Filmkritiker Hans Schifferle, dem in SZ, FR, FAZ und DLF einlässliche, von großer Sympathie erfüllte Nachrufe gewidmet wurden, ist Ende März gestorben. Mannes erzählt im Heft, wie das Foto zustande kam, dessen Porträtausschnitt mit den schwermütigen Augen in die Zeitungs-Nachrufe gefunden hat. Und er druckt das ganze Foto, aufgenommen an einem heißen Sommertag 2007, auf dem Glamour-Girl Annika Herr auf einer Agusta des passionierten Bikers Schifferle und dazu die gesamte Redaktion, die auch aus Stefan Ertl, Rainer Knepperges und Mannes selbst bestand, zu sehen sind; dabei erzählt er unter der Hand mit der ihm eigenen verspielten Akribie eine sehr traurige Geschichte, nur dass man es kaum merkt. Später im Heft dann Schifferles schöner Nachruf auf das Aki, Münchens letztes Pornokino (im Hauptbahnhof), das Ende 1995 geschlossen hat. Als Motto des Hefts ein Zitat aus Schifferles Die 100 besten Horrorfilme (1994): "Ganz nebenbei geht es ziemlich ernst um den Tod. Manchmal sehnt man sich nach ihm, nach der Ruhe, die er bringt. Dann wieder ist er ganz einfach der große Spielverderber, der zornig und rasend macht."
Doch der Tod soll das letzte Wort nicht haben! Deshalb noch eine Eloge auf die neue Kultur & Gespenster, deren Thema "Archive und Depots und Lager und Halden und Haufen und Bunker und Verliese und Kammern" lautet. Dem allen ist die 352 kostbare Seiten umfassende Ausgabe gewidmet, den Schatzkammern also, die aufbewahren, was nicht untergehen soll, aber auch den zufälligen Überbleibseln, dem achtlos Verwahrten, dem, was gerade seinem Vergessen-worden-Sein das Überleben verdankt. Dem irgendwo Gelandeten, das beglückt entdeckt, gehoben, geborgen, gerettet wurde. Auch das Heft selbst ist Archiv und Depot, da es zu großen Teilen ein Reader ist, der philosophische, ethnologische, historische, kunstgeschichtliche Arbeiten zum Thema versammelt, die oft das Zeug zu Klassikern haben: Nicky Reeves berichtet über die Inszenierung von Depots, wie es sie etwa im Berliner Museum für Naturkunde zu bestaunen gibt; Magdalena Grüner von Saatguttresoren auf Spitzbergen und Herbarien in Kopenhagen; Anna Zeit über Entsorgung auf Deponien, zumal von der Entsorgung des Westmülls auf ostdeutschen Deponien, die so idyllische Namen trugen wie Schöneiche oder Schönberg. Aber auch ein Artikel des Ethnologie-Doyens Fritz W. Kramer (*1941) aus der ZEIT ist zu lesen, in dem er davor warnt, jede völkerkundliche Sammlung übereilt zur Raubgutkollektion zu erklären, da die Gesellschaften, aus denen "erworben" wurde, oft ein Verhältnis zu den eingeheimsten Gegenständen hatten, das sich nicht mit westlich-kapitalistischen Eigentumsvorstellungen erfassen lässt. Alle Beiträge bewegen sich auf hohem theoretischem Niveau und bedienen sich zugleich einer beglückend konkreten, lesbaren, lebendigen Sprache. Und sie decken im Abseitigen das Bezeichnende auf, am schönsten vielleicht Rahel Wille, die von einer Löffelsammlung berichtet, die Marie Enderlin, Zeichnerin am Museum für Völkerkunde in Hamburg, gegen Ende ihres Lebens an ihren alten Arbeitgeber verkauft hat. Sich zur Zeichnerin für Bestandskataloge von Museen ausbilden zu lassen, war - so erfahren wir - ein Weg, wie Frauen ab 1900 ein Auskommen im Kunstbetrieb finden konnten. Und dass Enderlin Löffel aus aller Welt sammelte, also Gegenstände, an die billig heranzukommen war und die wenig Platz in Anspruch nahmen, zeugt von ihren begrenzten Möglichkeiten: ein ungemein anregender Beitrag, begleitet von erstaunlichen Fotos (wie das Heft ohnehin tolle Bildstrecken enthält, ob zu Vogelkothaufen oder präparierten Exemplaren des ausgerotteten Riesenalks). Und Anette Hoffmann widmet sich dem Thema "Kolonialgeschichte hören" anhand von Aufnahmen des österreichischen Anthropologen Rudolf Pöch (mehr dazu in unserer Bücherschau). |