Seit langem führt Axel Helbig in Ostragehege einlässliche Gespräche mit Schriftstellern, die deren Gesamtwerk an Beispielen verhandeln und dabei auch auf die Bedingungen des Schreibens in der Zeit vor und nach der Wende eingehen, auf die Umstände in Ost und West, die die Arbeit präg(t)en. Mit Marcel Beyer hat er im 90. Gehege eine Unterhaltung geführt, die gut zwanzig große, eng zweispaltig bedruckte Seiten füllt und, müsste sein Können noch nachgewiesen werden, wohl als sein Meisterstück gelten dürfte. Beyer, luzider Interpret nicht zuletzt eigener Texte, bekommt nicht nur viel Raum, um über die Reflexionen des aus seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen 2015/16 hervorgegangenen Buchs Das blindgeweinte Jahrhundert. Bild und Ton zu reflektieren, auf die Metaebene also noch die eine oder andere Ebene draufzusatteln, was allein schon packend zu lesen ist, sondern er äußert sich auch zu Vorgeschichte, Zielrichtungen, Aufbau- und Strukturproblemen seines großen Lorenz-Sielmann-Beuys-Romans Kaltenburg, und wir werden Zeugen eines echten Werkstattgesprächs. Ornithologie, Tierfilm, Kunst und (deutsch-)deutsche Geschichte vor und nach 45 werden dort so packend erörtert, dass sich sofort der Wunsch nach (Re-)Lektüre des Buchs regt. "Meine Romanfiguren gewinnen ihre Energie aus den Ängsten, die in ihnen stecken", sagt Beyer einmal. "Sie versuchen, nicht in Lethargie zu verfallen, sondern aktiv zu werden. Ein ungeheurer Lebenshunger, der dann Arbeitshunger wird. Alles außer Stehenbleiben."
Den Underground-Zeitschriften des Westens seit 1945 - ob der Literatur oder der Kunst zugeneigt - widmet sich die "Unter dem Radar" betitelte 20. Ausgabe von Kultur & Gespenster, die freilich zu Geschichte und Phänomenologie der zahlreichen Art-Zines, Lit-Zines, Fan-Zines viel Instruktives nicht beiträgt, weil zu viel Theorie und kulturhistorische Einordnungsbemühungen den Zugang zu den Heften und ihrer Ästhetik erschweren oder gar verstellen, besonders ärgerlich in Moritz Eges Aufsatz "Über das amerikanische Found Magazine. Einkaufszettel, Schulaufsätze, Notizen, Liebesbriefe", der freilich schon 2006 in der Zeitschrift Historische Anthropologie erschien und den Autor für höhere wissenschaftliche Weihen empfehlen sollte, sodass seine Mühlen staubtrocken mahlen (sehr lesenswert dagegen seine Dissertation "Ein Proll mit Klasse": Mode, Popkultur und soziale Ungleichheiten unter jungen Männern in Berlin von 2013). Dass die Zine-Kultur des Ostens nicht einmal gestreift wird, ist zudem ignorant. Tröstlich immerhin Dagrun Hintzes Beitrag "Veddel vergolden" über eine soziale Plastik von starker Provokationskraft und hohem Mobilisierungsfaktor, den hochumstrittenen Blattgoldüberzug für die Backsteinfassade eines 20er-Jahre-Hauses im von Baugenossenschaften geprägten Hamburger Arbeiterstadtteil Veddel nämlich, den Boran Burchhardt 2017 als Quartierskünstler realisierte und der nach einer Phase der Polarisierung die verfeindeten Lager im Stadtteil ins Gespräch brachte.
PS. Politisch Schreiben ist eine junge Literaturzeitschrift, die von Wiener Literatinnen in enger Abstimmung mit in Leipzig am Deutschen Literaturinstitut studierenden Frauen herausgegeben wird. Die gut 300 Seiten umfassende Ausgabe 4 befasst sich mit dem "Alter" und enthält einige vorzügliche Gespräche und Essays. So antwortet Heike Geißler etwa auf die Frage der Redaktion: "Ist es so, dass mit dem Alter oder mit dem Zuwachs an Erfahrung immer mehr Tätigkeiten Arbeit werden, weil eine Entzauberung idealistisch besetzter Räume vor sich geht?" auf denkbar knappste Weise: "Ja." Und ergänzt später: "Ich würde mich diesem Stumpf-Werden schon widersetzen, das finde ich ganz wichtig. Dass man mitkriegt, wo man stumpf wird, wo man aufhört, sich auch emotional erkenntlich zu zeigen, denn man muss ja immer emotional interagieren. Es ist ein Beweis von Absterben, wenn man etwas nicht mehr fühlt, und das sind Anzeichen, die man beobachten muss. Weil sie auch von Ohnmacht zeugen. Es sind ja verschiedenste Dinge, wenn man plötzlich stumpf wird. Warum? Aus Überlastung, aus Überforderung, Trauer, Müdigkeit. Aber definitiv sind da große Dinge dahinter, nach denen man schauen muss und kann." Sehr anregend auch die Essays von Eva Schörkhuber und Sabine Scholl. Und Ricarda Kiel steuert zum Schluss vier beglückende Outfit-Gedichte bei. "Seit ein paar Monaten haben sich meine Sinne verdoppelt / Seit ein paar Wochen wachsen mir Wellen wo früher Stängel waren", heißt es in "Mein Outfit für die Zeit im Wald". Lässt sich schöner nach draußen streben?
Edit hat sich zum Jubiläum eine Doppelnummer verordnet und der 75 zum Thema "Zerschossene Träume" die 76 folgen lassen, "Offene Wünsche", die mit Julia Veihelmanns "Der dritte Versuch" einen verheißungsvollen Romanauszug vorstellt: Vincent hat die Arschkarte gezogen, muss in der Pommesbude den Laufburschen machen und wird von den drei hässlichen Grazien Anne, Cayenne und Maren/Malin geschurigelt. Was er Ekliges zu tun hat, auf welche Kunden er so trifft, welche Sprüche er sich anhören muss und wie die Mädels ihn dissen, das beschreibt Veihelmann in einer präzisen, griffigen, Emotionen trefflich evozierenden Sprache. Da sitzt jedes Wort, da ist alle Wut nachvollziehbar, jeder Hohn, aller Hass, da ist aber auch unverhofft Platz für leise Regungen, trotz all der Pommes und gierig verspeisten Würste. Und am Ende eines langen Arbeitstages heißt es: "Marie kommt ins Zimmer, als er bereits ein paar Stunden schlaflos im Bett liegt. Sie bringt den Geruch nach Sinkendem Schiff mit. Auch er stinkt jetzt nach Arbeitstagen, nach gebratenem Fleisch, zerbeultem Metall und Fritteuse. Seine Augen haben sich ans Halbdunkel gewöhnt, und er schaut Marie zu, wie sie sich, mit vorsichtigen, langsamen Bewegungen, um ihn nicht zu wecken, auszieht, ihre Kleider auf einen Stuhl legt und in ein zu weites und zu langes T-Shirt schlüpft. Wie ein leuchtendes Gespenst kommt sie aufs Bett zu. / "Ich bin noch wach, Marie", sagt er zu ihr. / Sie schlüpft neben ihn, fängt seine Hand ab, mit der er nach ihr tastet, und verschränkt die Finger mit seinen. Es ist eine ebenso zärtliche wie abwehrende Geste."
Dass Gespräche mit Schriftstellern über reale Reisen oft nicht produktiv sind, da die Autoren besser imaginäre Expeditionen am Schreibtisch zu Papier gebracht hätten, diese Binsenweisheit bestätigt poetin 26. Was etwa Franzobel, Tom Schulz oder Constanze John übers Reisen zu berichten haben, lohnt die Lektüre kaum; nur Jörg Schieke kann im Gespräch mit Jan Kuhlbrodt dem Thema Reizvolles abgewinnen, gerade weil er das Reisen nicht zu den literarisch ergiebigen Tätigkeiten rechnet, weil er praktisch nie das Gefühl loswird, immer Tourist zu bleiben und als solcher wahr- und ausgenommen zu werden, und weil ihm das Rumgeziehe inzwischen oft als primär anstrengend und als Zeichen innerer Leere erscheint. Herrlich die diffamierenden Verben, die er in diesem Zusammenhang verwendet: durchkrabbeln, krauchen, herumgeistern. Und wohltuend ungeniert: "Wenn du willst, dass irgendwer scharf ist auf deine eigene kümmerliche Story und Biografie, dann musst du hübsch zuhause bleiben." Recht so, Schieke, ab an den Schreibtisch und losgeflunkert. Schreib uns wieder so was Feines wie dein Langgedicht Antiphonia, denn: "Tatsächlich lässt sich so ein langes Gedicht ganz gut mit einer Reise vergleichen - aber einer eben, in der die Unterkünfte nicht schon vorher gebucht sind."
Zuletzt gilt es ein Werk der Liebe zu preisen, Esther Kinskys Dossier "Glas Chu! Glasgow! Rückeroberungen einer Stadt" in Schreibheft 92. Zusammen mit Claudia Sinnig hat sie Kindheits- und Jugenderinnerungen dreier schottischer Schriftsteller übersetzt und stellt sie erstmals auf Deutsch vor. Wir begegnen Prosa von J.F. Hendry, Archie Hind und vor allem Martin Chalmers, in dessen schottisch-deutscher Doppelperspektive (er wurde als Kind eines britischen Soldaten und einer Deutschen 1948 in Bielefeld geboren und wuchs seit 1952, behütet von der Berliner Großmutter, die dafür die Trümmerstadt hinter sich ließ, am Clyde auf) die Zauberlandschaft Kindheit mannigfach gebrochen erscheint: durch die Unzugehörigkeit der Großmutter in diesem fremden Land, in dem sie 1960 fast folgerichtig vor den Augen des Jungen einem Verkehrsunfall zum Opfer fällt; durch die eigenartig militaristischen Rituale des schottischen Schulalltags; durch musikalische Exerzitien als Teil des Unterrichts; durch die irritierende Abwesenheit des Vaters und die stets leidend wirkende Mutter; durch das Kino als gemeinsame Traumwelt von Mutter und Sohn, die als Diade für abgesparte Stunden gemeinsam in den Zelluloidschoß gleiten. Es sind glänzende, reich ausdifferenzierte Beobachtungen, die leider Fragment blieben, denn Chalmers - Schriftsteller, Historiker, Übersetzer und mit Esther Kinsky verheiratet - starb 2014 in Berlin. Auf die Buchausgabe des von ihr übersetzten und sicher auch edierten Gesamtfragments wartet der Rezensent mit ungeduldiger Neugier. Und hat noch einen DVD-Tipp, der die nordenglischen Industriereviere der späten 50er und frühen 60er in großen Filmen bei fantastischer Kamera wieder lebendig werden lässt: die DVD-Box Woodfall: A Revolution in British Cinema, herausgegeben vom British Film Institute. Zu sehen gibt es u.a. Saturday Night and Sunday Morning mit Albert Finney, The Loneliness of the Long Distance Runner und den noch immer überwältigenden Film A Taste of Honey nach Shelagh Delaneys Theaterstück, mit dem die Schulabbrecherin aus Salford bei Manchester Ende der 50er zu einem Star des neuen, sozialkritischen britischen Theaters wurde. Delaney ist auf dem orangerot eingefärbten Cover von Louder Than Bombs mit Zigarette zu sehen (reproduziert nach einem Zeitungsfoto von 1961). Morrissey schrieb 1986, sein Schreiben verdanke sich mindestens zur Hälfte ihrer Arbeit. "This Night Has Opened My Eyes" ist die Umsetzung von A Taste of Honey in einen Song der Smiths. |