Am Erker 80

 
Texte
Am Erker 80, Münster, April 2021
 

Reinhold Schrappeneder
Fall

Er geht. Geht immer geradeaus, einen Fuß vor den anderen setzend, mechanisch, ohne zu denken. Schreitet unbeirrt aus auf der weiten, felsigen Ebene, die er nun schon so lange - wie lang eigentlich? - durchwandert, ohne dass die Umgebung sich auch nur im Geringsten verändert hat. Soweit er im spärlichen Licht des von den Wolken hin und wieder für ein paar Augenblicke freigegebenen Mondes erkennen kann, ist das Einzige, was ihn umgibt, diese endlos in alle Richtungen sich dehnende Hochebene, in der er feststeckt wie in zähem Brei. Dass es sich um eine Hochebene handelt, schließt er aus dem felsigen Boden und daraus, dass nirgendwo sie begrenzende Berge oder auch nur unscheinbare Hügel zu entdecken sind. Auch keine Senken und Mulden übrigens, wenigstens keine nennenswerten. Gewisse Unebenheiten im Felsboden, ja, die gibt es, und kleine Steine liegen herum und hie und da ein etwas größerer. Aber nirgendwo ragt ein Berg empor, ein Hügel oder auch nur ein vereinzelter Felsen. Vor ihm, hinter ihm und um ihn herum nur Finsternis, tiefschwarze Nacht und, sooft die Wolkendecke aufreißt, die weithin sich erstreckende Ebene, die horizontlos mit dem Himmel verschmilzt. Und weiter geht er, immer geradeaus. Irgendwann muss das Szenario sich doch ändern, denkt er und geht weiter, immer geradeaus.
Plötzlich tritt er ins Leere. Er strauchelt, fällt - nein: schwebt in die Tiefe ... In aufrechter Haltung, stehend, schwebt er, ein Fallen ist es im Zeitlupentempo, aus der Dunkelheit hinab in eine andere Dunkelheit, tief taucht er ein in den schwarzen Abgrund, tiefer und immer tiefer sinkt er hinab, immer weiter. Wie lange, weiß er nicht.
Als er endlich wieder Boden unter den Füßen spürt, ist sein erster Gedanke, die über ihm steil aufragende Wand zu erklimmen. Er hält Ausschau nach Vorsprüngen, auf die er einen Fuß setzen, an denen er sich festkrallen, hochziehen kann. Vergeblich. Näher tritt er heran an diese Wand, untersucht sie peinlich genau, bringt sein Gesicht dicht daran, schnuppert dran gewissermaßen, nimmt auch die Hände zu Hilfe, die er tastend daran entlangführt, presst eine Wange dagegen: Es gibt keine Unebenheit in dieser Wand, absolut glatt ist sie. Aus Stein zwar, das spürt er an Händen und Wange, riecht es sogar, doch glatt wie Metall. Er tritt zurück, einen Schritt nur, geht die Wand entlang ein paar Schritte, versucht es erneut, dann auf der anderen Seite, mit demselben Ergebnis, weiter entfernt in dieser Richtung, viel weiter, dann noch viel weiter in der anderen, wieder das Gleiche, überall: abweisend kalte, metallische Glätte, wenn auch aus Stein.
Da wendet er sich der Ebene zu, die sich der Wand entlang erstreckt, lässt die Wand hinter sich, zögernd zuerst, dann immer entschiedener, schneller. Schreitet nun zügig aus auf der weiten, felsigen Ebene, die, wie er bald bemerkt, derjenigen, die er vor seinem Schwebefall durchwandert hat, sehr ähnlich, wenn nicht gar mit ihr identisch ist. Und weiter geht er, immer geradeaus, mechanisch einen Fuß vor den anderen setzend, denkt an den Fall, den er hinter sich hat, dieses unvermutete, langsame, schwebende Sinken, wartet unwillkürlich auf das nächste.
Diesmal geht er sehr lange. Viel länger noch, scheint ihm, als das erste Mal. Endlich wird es langsam heller, und in der Ferne erkennt er die Konturen einer Stadt. Seiner Stadt, wie er zu vermuten beginnt, während er darauf zustrebt. Bald, schon bevor die Ebene übergeht in die Wege, Straßen und Gassen der Stadt, ist er sicher: Das ist die Stadt, in der er lebt. Den Dom entdeckt er, den Wasserturm, die Burg, das hoch aufragende Gebäude des Bahnhofshotels. Als er näherkommt, auch die anderen Kirchen. Den Riesengebäudekomplex des Spitals. Den Bahndamm. Einen Zug.
Erst als er den Bahnhof sieht, vor dem Bahnhofsgebäude steht, fällt ihm ein, dass das Viertel, in dem sein Haus zu finden ist, am anderen Ende der Stadt liegt. Er nimmt ein Taxi, kann die Adresse nicht nennen, sagt einfach dem Fahrer, welche Richtung er einschlagen, wo er jeweils abbiegen soll. Nach einem kleinen Umweg - einmal hat er dem Fahrer eine, wie sich nach einiger Zeit herausgestellt hat, vom Fahrziel wieder wegführende Anweisung erteilt - hält das Taxi endlich doch vor dem richtigen Haus, und er steigt aus.
Kein Hund schlägt an, als er an der Gartentür läutet. Als nach einer Weile das Summen des Türöffners ertönt, springt die Tür nicht auf. Erst als er das ganze Gewicht seines Körpers dagegenstemmt und zugleich mit einer Hand gegen die obere Kante der Tür schlägt, gibt sie dem Druck nach und lässt sich öffnen. Die Haustür hingegen wird ihm, nachdem er auf dem mit Natursteinen gepflasterten Gartenweg auf sie zugeschritten ist, von einem jungen Mann geöffnet, der sich als sein Sohn zu erkennen gibt - eine Behauptung, die ihm auf den zweiten Blick durchaus glaubhaft erscheint. Die Gesichter zweier jüngerer Kinder sind ihm sofort geläufig.
Seine Frau begrüßt ihn herzlich, ohne jedoch von seiner Ankunft so viel Aufhebens zu machen, wie er das angesichts der Dauer seiner Abwesenheit für angemessen hielte. Am nächsten Morgen will er nach dem Frühstück schon zu seiner Arbeitsstätte, dem Städtischen Gymnasium aufbrechen, als er einer Bemerkung seiner Frau gerade noch rechtzeitig entnimmt, dass die Sommerferien nach wie vor andauern, eine wie auch immer geartete Unterrichtstätigkeit seinerseits also keinesfalls erforderlich ist. Er genießt den Rest des Sommers, hält sich viel im Garten auf, unternimmt Ausflüge mit der Frau und den beiden jüngeren Kindern - der Älteste geht schon seiner eigenen Wege -, abends und an den Wochenenden trifft man sich oft mit Freunden, Nachbarn oder Bekannten im Restaurant oder zum Grillen im Garten, manchmal geht's ins Bad oder an den See, den seit langem schon leerstehenden alten Swimmingpool hat man wieder nicht herrichten lassen, ab und zu steigen die Kinder hinein und holen einen halbtoten oder auch ganz toten Käfer heraus, der hinuntergefallen ist und es nicht mehr geschafft hat, die Wand hochzukriechen.