Am Erker 80

 
Texte
Am Erker 80, Münster, April 2021
 

Klaus Gottheiner
Westphasien

In der kleinen, aber schön gelegenen Residenzstadt am Fuß des Harzes lebten zwei Brüder, Jakob und Will, die einander so ähnlich sahen, dass niemand außer ihrer alten Mutter und ihrem beinahe ebenso alten Hund sie auseinanderhalten konnte. Beide waren sie an den besten Universitäten ausgebildet und hatten schon als Studenten durch ihre Forschungen auf sich aufmerksam gemacht; wären die Verhältnisse noch die alten, sie hätten trotz ihrer Jugend längst Professoren sein müssen, der eine in Marburg, der andere in Göttingen oder umgekehrt. Aber inzwischen hatte der Krieg alles um- und umgeworfen, in der Stadt residierte kein Kurfürst und nicht einmal ein Landgraf mehr, und jemand hatte die Grenzen in Europa so vollständig neu gezeichnet, dass sich die Menschen plötzlich als Bürger von Ländern wiederfanden, deren Namen sie zuvor noch nie gehört hatten.
Kritiker nannten Westphasien eine Fiktion, ein reines Phantasiekönigreich, geboren aus dem Verlangen nach der idealen Regierung und der Furcht der Besatzer vor den unberechenbaren Stimmungen der Besetzten, weshalb die einen es lieber "Westphantásien" genannt und die anderen "Westphóbien" besser gefunden hätten. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass das Land über eine Polizei, eine Armee und eine Steuerbehörde verfügte und man für den goldenen Leonced'or mit dem Konterfei des Monarchen bei allen Bankhäusern Europas zwanzig Franken bekam, nicht mehr und nicht weniger. Ja, es gab in der Tat einen leibhaftigen König, Leonce den Ersten, der sich in dem Schloss der Landgrafen und Kurfürsten hoch oben über der Stadt eingerichtet hatte und von dort aus über ein viel größeres Territorium gebot, als es die alten Duodezdespoten je besessen hatten. Als das Planen noch geholfen hatte, wäre Westphasien mit seiner Verfassung, seinem Parlament, seiner Verwaltung nach dem neuesten französischen Muster vielleicht der beste aller Staaten geworden. Doch leider hatte man in Europa noch immer nicht mit dem Kriegführen aufgehört, und immer noch gab es die Sondersteuern, die Lebensmittelrationierungen und die gefürchteten Konskriptionen. Wie alle im Land, so mussten auch Jakob und Will zusehen, wie sie sich selbst, ihre alte Mutter und ihren alten Hund durch die schlechten Zeiten brachten. Und wer sagte es denn, ein entfernter Verwandter hatte eine märchenhafte, wenn auch nur sparsam dotierte Stelle für sie gefunden: Bibliothekar des Königs, draußen auf Schloss Leoncenhöhe! Es war, natürlich, nur eine Stelle für einen, nicht für zwei, doch da sich die Brüder seit jeher alles teilten und niemand, schon gar nicht der König, hätte sagen können, wer Will und wer Jakob war, kam Jakob an allen ungeraden und Will an allen geraden Tagen zum Dienst (oder war es umgekehrt?), und siebenmal im Jahr, an jedem Einunddreißigsten, vertrat sie ihr treuer alter Hund.
Und wirklich, es gab zu tun für drei. Anfangs hatte die Bibliothek nur aus Kisten über Kasten voll requirierter Bücher bestanden, "alles Bodenreform", wie der Schlossverwalter herablassend bemerkte. Monatelang hatten die Brüder, getrieben von der Furcht vor der Unbeherrschbarkeit des Wissens und dem Verlangen nach Ordnung, über eine Aufstellungssystematik diskutiert und sich schließlich für die teilfacettierte Universalklassifikation des indischen Weisen Ranganathan entschieden. Saal um Saal, Kammer um Kammer, einst die Boudoirs der Landgräfinnen und Kurfürstinnen und die Jagdzimmer lange schon verblichener Potentaten, füllte sich nun langsam mit Büchern, sehr langsam sogar, da es sich die Brüder zum Prinzip gemacht hatten, jedes einzelne Buch komplett durchzulesen, bevor sie es systematisierten und einstellten. Und währenddessen führten Jakob und Will ein peinlich genaues Zettelverzeichnis nach den Regeln des Hessischen Gesamtkatalogs, mal Will mit den Haupt- und Jakob mit den Nebeneintragungen, mal umgekehrt.
In dieser ganzen Zeit benutzte niemand die Bibliothek außer dem König.
Der König erschien fast immer nachts. Kein einziges Mal zeigte er sich dabei verwundert über das ausgeschlafene Aussehen seines Bibliothekars. Doch das Arbeitspensum, das er ihm auf diese Weise aufzwang, einen ganzen Tag und eine ganze Nacht, so dass zwischen dem Löschen des Lichts und dem nächsten Dienstantritt nur ein Handumdrehen lag, hätte ein Bruder allein gar nicht bewältigen können. Der König dagegen, ein Gefangener in seinem eigenen Palast, litt offensichtlich an Schlaflosigkeit. Sein Gesicht war bleich wie Mondlicht auf weißem Marmor und gezeichnet von dem Verlangen nach seiner ersten Frau, mit der er in Amerika glücklich gewesen war, ehe sein großer Bruder, der Sonnenkaiser, ihn zur Scheidung und zur Rückkehr nach Europa gezwungen hatte. Nur manchmal setzte er sich tatsächlich an einen der Arbeitstische und ließ sich dieses oder jenes Tafelwerk oder einen Roman aus dem vergangenen Jahrhundert bringen. Meistens fehlte ihm dazu die Geduld. Seine nervöse Unrast konnte er nur bekämpfen, indem er sich erzählen ließ vom jeweils Diensthabenden, Fiktionen aus alten, Sagen aus noch älteren Zeiten und solche Geschichten, die zu unglaubwürdig waren, um für wahr gehalten zu werden, aber dennoch als wahr in den Büchern und Chroniken standen, und die hatten die Brüder ja zum Glück alle gelesen.
Was für Geschichten das sein sollten, davon hatte der König allerdings eine genaue Vorstellung. Sein stärkstes Gefühl, das Verlangen, sollte übertönt und vergessen gemacht werden durch ein noch stärkeres: Leonce der Erste wollte das Fürchten lernen. Nun hätte man meinen können, dass er die Brüder dafür immer weniger nötig haben würde im Lauf der Jahre, denn ewig blieben die Armeen des Sonnenkaisers nicht mehr so siegreich an allen Fronten Europas wie zu Beginn, und wie alles enden würde mit Westphasien und dem ganzen System der Satellitenstaaten, hätte dem König eigentlich ausreichend Grund zum Fürchten geben müssen.
Doch Jakob und Will wussten auch so, was von ihnen erwartet wurde. Ihre Erfahrung sowohl draußen in der Welt als auch drinnen in der Bibliothek hatte sie gelehrt, dass Fiktion tatsächlich nur diese zwei Grundlagen hatte, Furcht und Verlangen, dass dieser Satz doppelt für Kinder und Könige galt und dass, was für Kinder recht war, für Könige billig sein musste und umgekehrt.
Fünf Jahre ging das nun schon so. Aber der Winter 1812, der fünfte seit der Gründung des Königreichs, war der härteste von allen. Es fehlte an Feuerholz, es fehlte an Nahrung, in jeder Nacht gingen die Konskripteure durch die Stadt wie leibhaftig gewordene Riesen und Oger, und an wessen Tür sie klopften, den sah man nie wieder, denn unweigerlich warf man ihn in den Krieg gegen den Winterzaren, den der Sonnenkaiser gerade vom Zaun gebrochen hatte aufgrund von Differenzen in der Interpretation des Begriffs "Kontinentalsperre". Ob sie den König wirklich das Fürchten gelehrt hatten, dessen waren sich die Brüder nicht so sicher, dass sie aber selbst in ständiger Furcht leben mussten, umso mehr. Gefangene ihrer eigenen List, sahen sie Rettung allein darin, ihre Geschichten immer weiter- und weiterzuspinnen, ununterbrochen an der Schraube des Grauens zu drehen und hinter den Ungeheuerlichkeiten, von denen sie erzählten, immer neue und schrecklichere Ungeheuer zu versprechen, um nicht von den Konskripteuren entdeckt und an die Winterfront geschickt zu werden, deren Horror sich auch Jakob und Will nicht hätten ausdenken können.
Natürlich war das Verfahren riskant. Die Zeit zwischen dem Dienstschluss des einen und dem Dienstbeginn des anderen Bruders war so kurz, dass jener unmöglich diesem berichten konnte, was er dem König gerade erzählt hatte; der nächste in der Reihe musste einen Übergang finden, der geschickt verschleierte, dass die Fortsetzung mit dem Anfang rein gar nichts zu tun hatte. Aber gerade das schien dem Monarchen zu gefallen, seinem sprunghaften Temperament ganz besonders zu liegen; die Inkonsistenzen in der Handlung nahm er als erregende Wendungen hin zu noch schrecklicheren Schrecken oder hatte in der Nacht davor nicht richtig zugehört. Nur die Geschichten mussten weitergehen, und solange sie weitergingen, schien er keinen Gedanken darauf zu verwenden, dass auch er in Gefahr war: die Armeen seines Bruders ausgeblutet und auf allen Schlachtfeldern aufgerieben, die Kanonen der Preußen, Russen und Braunschweiger schon auf den Höhen rings um die Residenzstadt in Stellung gebracht (vom ersten Stock auf Schloss Leoncenhöhe sah man direkt in ihre runden schwarzen Öffnungen), um die schöne Seifenblase namens "Westphasien" unsanft und blutig zu zerschießen.
Und so ist auch diese Geschichte noch lange nicht zu Ende, und das ist gut so, findet Grete. Ich, Hans, sehe keinen Grund, an ihrer Einschätzung zu zweifeln. Wenn die Geschichte vom König und seinen zwei Bibliothekaren nur immer weitergeht, meint Grete, können sie uns ruhig weiter in ihrem Glas- und Edelstahlkäfig gefangenhalten und mit Zellen oder Hormonen mästen oder was immer es ist, das sie uns geben, sie werden uns doch noch nicht aufschneiden und unserer Organe berauben, sie wollen hören - auch wenn das alles nur Teil ihrer Untersuchungen und Experimente sein sollte -, was als Nächstes kommt. Morgen ist Grete an der Reihe, diese Fiktion weiterzuerzählen, und dann wieder ich oder umgekehrt, und wenn uns irgendwann die Ideen ausgehen, wird eine Freundin uns helfen, die Cyberdrohne, die die Standortdaten eingelesen hat, die unsere Smartphones vom Parkplatz an der Autobahn bis hierher in dieses Labor im aufgelassenen Kohlebau an allen Biegungen und Wendungen des Weges gesendet haben und die jetzt jede Biegung und jede Wendung kennt, die diese Geschichte genommen hat und noch nehmen wird, in der Vergangenheit und in der Zukunft, im Raum und in der Zeit.