Am Erker 73

 

 
Texte
Am Erker 73, Münster, Juli 2017
 

Rolf Schönlau
Der große Anruf

Die steilen Ränge des Alten Anatomischen Theaters waren bis auf den letzten Platz besetzt. Einlass bekommen hatte nur, wer nachweisen konnte, an einem der kleinen Anrufe teilgenommen zu haben, die nach dem Begräbnis drei Tage lang in Abständen von erst sechs, dann zwölf Stunden stattgefunden hatten. Um nicht von Ghosthuntern und anderen Paranormalen gestört zu werden, war der große Anruf auf eine Uhrzeit deutlich diesseits der Geisterstunde angesetzt worden.
Das Theater war verdunkelt. Nur die Notbeleuchtung brannte. Die Anrufer starrten auf ihre Phones. Im Schein der Displays waren die Gesichter schemenhaft zu erkennen. Wenn das Fallblatt der Klappzahlenuhr an der Bühnenwand leise klickte - 21:55, 21:56, 21:57 -, ging ein Ruck durch die Reihen. Alle sahen von ihren Geräten auf, streiften mit dem Blick erst die schwach illuminierte Wanduhr, dann den Seziertisch mit dem Galaxy S5 und der Lautsprecherbox, um sich sogleich wieder ihren eigenen Phones zuzuwenden.
Bei jedem Minutenwechsel hatte ein Anrufer den Verstorbenen dreimal anzuklingeln. Die Prozedur war schleifenförmig Rang für Rang von links oben nach rechts unten gewandert und inzwischen am vorletzten Platz angelangt, wo die Kette am Vortag gerissen war, weil sich der Anrufer verwählt hatte. Nach dem Reglement saß er jetzt als Erster im obersten Rang, so dass alle anderen um einen Platz aufgerückt waren. Als das Fallblatt bei 21:58 klickte, bewältigte sein Nachfolger die Aufgabe sicher, ebenso der Banknachbar bei 21:59.
Für den Stundenwechsel sah die Choreographie vor, dass die Anrufer das minütlich exerzierte Blickdreieck vom eigenen Phone zur Wanduhr zum Seziertisch nicht wieder schlossen, sondern ihr Augenmerk gebündelt auf die Tapetentür links in der Bühnenwand richteten. Jeder kannte die Tonfolge, die das bevorstehende Fallen von drei Zahlenblättern begleitete, und wusste, dass das geringste Zucken in Richtung der Geräuschquelle den großen Anruf gefährden würde.
Klickedi-klickedi-klick: 22:00. Keiner patzte. In der Tapetentür erschien die Witwe, ging zum Seziertisch, nahm das Galaxy und wählte die Nummer ihres verstorbenen Mannes. An den Gesichtern war abzulesen, dass alle vor Augen hatten, wo der Whistle-Ton erklingen würde - in der 200 × 60 × 70 cm weiten Finsternis mit dem Power-Lämpchen der Freisprechanlage als einzigem Orientierungspunkt. Es klingelte. Drüben würde das Display aufscheinen, bei weitem nicht hell genug, um den Raum auszuleuchten. Das zweite, dritte und vierte Klingeln. Nach dem siebten sprang die Mailbox an.
"Der Tod geht dich nichts an", sagte die Stimme des Verstorbenen.