Daniel Ketteler
Jochen hatte sich immer schon amüsiert über diesen Mann, der sich selbst einen Helm, ach was, eine komplette Rüstung aus Alufolie gebastelt hatte und dann wie eine futuristische Mumie auf der grünen Bank unten im U-Bahnhof Kottbusser Tor saß. Der Denker. Auf der grünen Bank voller Brandflecken, dort, wo sich die Junkies ihre harmlosen Joints drehen. Wie bei einem Ritterhelm gab es nur einen Augenschlitz, Paketpappe stabilisierte das Alumonstrum von innen. Zeitweise regungslos, eine Statue, war dieser arme Irre dann wieder am Ausbessern, zerriss Alufolie, bog Pappe. Ohne seinen Helm sah man ihn allerdings nie. Hektisch und grobmotorisch wirkten seine von der Rüstung behinderten Bewegungen, das Resultat konnte sich allerdings sehen lassen. Zusammengehalten wurde das Ungetüm auch von Schals, und über allem, selbst im Sommer, trug er eine schwere Jacke. Wenn Jochen die Automatiktür beim Kaiser's hinauseilte, hörte er es nicht selten im Fotofixautomaten neben dem Eingang rascheln. Hinter dem Vorhang war der Mann aktiv, ein Cyborg, ein Alu-Cyborg-Punk, es fehlte bloß noch so ein Spielzeug-Laserschwert von Leon, und der Mann wäre der perfekte Kotti-Ritter. Oft sah Jochen auch nur die Alufolie im Fotofixautomaten, Reste des visionären Modedesigners. Dort lagen sie, die Spuren des Kreativen, im Fotofixautomaten, Umkleidekabine und Fixerstübchen zugleich. Alufolie war überhaupt wichtig am Kotti, darauf wurden die Opioide geraucht, wurde das Crack verdampft und mit kleinen Röhrchen eingeatmet. Es roch dann süßlich. Anfangs hatte Jochen den Geruch gar nicht zuordnen können, aber der Geschmack war einmalig, ganz wie verrauchtes Gras erkannte man ihn sofort. Vor allem im Winter und vor allem im Sparkassenvorraum unterhalb des Ärztehauses roch es penetrant, überall lagen die angeschwärzten Alureste herum. Während die ersten Partyschwärmer Bargeld zogen, dampfte das gebackene Kokain über den Köpfen der mit zittrigen Händen an den Alufolien kokelnden Gestalten. Cyborgs und Kameras. Flüchtige Geister, Dschinnis. Vielleicht wollte der Alupunk auch einfach nicht gefilmt werden, er versuchte sich zu entziehen und fiel doch maximal auf. Kotti - ein Ort letzter Freiheiten. Die Kameras wurden vor einiger Zeit neu installiert. Jochen wähnte sich seither ständig im Visier von Zielfahndern. Es gab eine Menge Tarnungen und Verkleidungen: Lederjacken, grüne Tschadors, enge Röhrenjeans. Aber einen Helm wird er nicht tragen, das wär doch zu blöd. Die Polizisten würden sich ohnehin schon genug amüsieren über den Alupunk. Wie Jochen gehört hatte, schaute sich auch niemand die Live-Bilder an, sondern sie wurden nur 24 Stunden gespeichert für den Fall, dass etwas passierte ... Wie hatte es überhaupt so weit kommen können? Warum hatte er sich in dieses Milieu ziehen lassen? Es war die Drift-Hypothese, die sich hier bestätigen ließ: Alle Freaks, je freakiger sie werden, ballten sich an einem Ort. Und er selbst war jetzt auch so ein Freak, war es immer gewesen. In bürgerlicher Tarnung, auch das so eine Tarnkappe, Poloshirt und Boss-Mantel. Etwas uneuphemistischer könnte man sagen: Je schlechter es den Menschen geht, desto sicherer finden sie sich am Ende an einem gemeinsamen Ort wieder. Und zu guter Letzt war auch er, der seriöse Hausarzt, zu solch einem Randgeist geworden, Spielschulden, schlechte Gedichte usw. Kotti, Escort u. Privé, Ihr Dr. Kö. Es wird kommen, wie es kommen muss. Auch er wird sich bald so einen Aluhelm besorgen. Wird ihn sich schneidern lassen bei seinem Freund, dem Türken Cem. Man wird seine Spuren scannen. Wer ist dieser ominöse Mann? Oder noch banaler: Was isst dieser Mann? Warum ständig Linsensuppe für fünf Euro inklusive Ayran ("So schnelle Ayran hast du noch nie bekommen, mein Bruder ...")? Warum diese Routinen für so wenig Geld? Warum dieses Auto? Jaguar F-Type. Wohin läuft, wohin driftet er? Bewegungsprofile wird man erstellen. Und, ah!, verdächtig: Immer kauft dieser Mann die gleichen Thunfischbrote der Firma "Natsu", alles Bio und doch der reine Fettmacher. Im Kaiser's sind auch schon überall Kameras angebracht. Der Kotti - vielleicht der bestüberwachte Ort Deutschlands. Wohin er geht, das Kameraauge sucht ihn. Das Auge Mordors. Danke, große Koalition, danke, CDU! Bei Arno Schmidt hatte er eine Zeichnung gesehen: die Welt als Terrarium. So stellt er sich das auch manchmal vor: der Kotti als ein kleiner Kosmos, ein solipsistisches Sonnensystem, und er ist nur eine Figur auf dem Spielbrett, hängt am Gängelband größerer Mächte. Der Alumann als Sonnenkönig. Auch Hakim, der Pate, war nur noch eine Sonne auf einer weiteren Umlaufbahn in einem unendlichen Spiel. So ließe sich prinzipiell die kreishafte Unendlichkeit erklären, die Umlaufbahnen der Gegenwart stecken dann einfach ineinander wie russische Babuschkas, und das Kreisen der Autos um den Kottikreisel war die innerste Sonne von allem, ein kleines verdrecktes Stückchen Erde, ein Stück Welttheater, überwacht von polizeitaktischer Hightech. Vielleicht wird so das Theater von morgen gemacht, man braucht dann gar kein Netflix und kein, ohnehin veraltetes, Big Brother. Man kann das einfach alles live senden, wie er die mit Spuckis und Demo-Plakaten und Konzertankündigungen vollgeklebte Tür zum Treppenhaus öffnet, den Aufzug (Kamera) zur Praxis hinauffährt und in seinen albernen grünen OP-Kittel schlüpft. Hier ist die Soap. Irgendwo sitzen sie sicher, die Riesen, und lachen sich schlapp über die neue Folge "Paranoia am Bahnhof", über den Mann mit dem Alukostüm, über ihn, Jochen, den traurigen Hausarzt, korrupt bis ins Mark, gescheiterte Ehe, ein Kind, betrogen und verführt zugleich. |