Am Erker 71

 

 
Texte
Am Erker 71, Münster, Juni 2016
 

Marcus Jensen
Silva, 1

 

        Come closer and see, see into the dark
        Just follow your eyes, just follow your eyes

        The Cure, 1980

 

Ab dem frühen Morgen jagen die Beutestücke aus der Nacht längs oder quer über die Skanden. Tromsö und Kiruna schicken in den Festleitungen direkt zur Zentrale, entlegene Höfe bei Narvik und Lovikka suchen zunächst Handymasten, ein arktischer Atom-Eisbrecher funkt, die Mittler transportieren alles durch Glasfaserbündel weiter, ein Ferienhaus am Nuasjärvi sendet der Zentrale ein Datenpaket mittels hundert Jahre alter, schwarz ummantelter Telegraphendrähte, und auch die Meereskabel unter Nordsee, Ostsee und Atlantik liefern Träume, die Kanäle sind freigeschaltet bis elf Uhr mitteleuropäischer Zeit. Die Sekte borealis spannt sich auf zwischen Grönland und Sankt Petersburg, den äußeren Hebriden und Vilnius, Spitzbergen und Hamburg. Die meisten der inneren zwei Dutzend Geistlichen in der Zentrale sind dann wach, und fast immer hört Silva selbst zu, die Nummer 1.
"Wenn wir dir eines versprechen können, dann das: Gibst du uns deinen Traum, darfst du sicher sein, dass wir ihn lesen oder hören werden. Wir schlafen versetzt, weil wir den Schlaf der anderen und die Träume teilen wollen. Höre ich dir zu, hören auch Nummer 2 bis 24 zu - durch mich. Sie sind dabei. Das glauben wir. Falls du Mitglied werden willst, solltest du das als Grundlage hinnehmen. Wenige bleiben lange in borealis, das ist dir ja bekannt. Wir halten niemanden. Glaub es oder lass es."
Die Protokolle aus den frisch überstandenen Nächten dürfen eintausend Anschläge lang sein, und sind diese Berichte - meist per Fingerdruck über gesehene Normtastaturen - eingegeben, so mündet doch alles am Ende umgeformt in pulsierende Braille-Felder für Silva und den inneren Kreis, oder ein Novize liest es vor.
"Ich will Novizen, ich will deren Stimmen, ich prüfe sie, ich mag das. Nummer 5 und 9 und 17 wollen ebenfalls hören. Die anderen Inneren setzen lieber ihre Fingerkuppen auf die Braille-Felder. Aber jeder ankommende Traum speist uns alle."
Anfänger bezahlen, Mitglieder schicken gratis. Kein Traum, auch kein besonders langer, lässt sich nicht wenigstens in einem seiner ablösbaren Glieder, den Sollbruchstellen, auf höchstens eintausend Anschläge bringen. Für die Einreichenden bedeutet es Arbeit: ein Zettel, noch müde und erinnerungsträge hingekritzelt an einer isländischen Bushaltestelle knapp südlich des Polarkreises oder vor einer Ampel wartend bei Inverness, eine Notiz, eingetippt auf einem schleswig-holsteinischen Feld während des Wegs zum zweiten Frühstück oder geschrieben während der Stoßzeit in einer Kopenhagener U-Bahn. Wie kurz auch immer füllt der Traum nach dem erleichternden Verschicken vom Büro-PC, vom Smartphone oder vom Universitätsrechner aus die Pipeline der zu erhörenden Träume.
"Wir bieten diesen Dienst an, weil wir Inneren nicht träumen können. Nicht im normalen Sinne. Wir empfinden unsere eigenen Schlafbilder als wertlos und ersetzen sie durch unendlich viel Fremdmaterial. Das nie wirklich fremd ist, wenn du glaubst. Glaub es oder lass es."
Wenn Journalisten Silva etwas fragen, spricht die 1 selbst ganze Konferenzen mit dem Du an. Es gibt für sie nur entweder Mensch zu Mensch oder formlose Menschheit. Sie hat es sich vor Jahrzehnten abgewöhnt, ihren Kopf mit der schwarzen, lichtdichten Maske anzuheben oder zu schwenken, sie wendet sich nicht von links nach rechts, um den Journalisten das Gefühl zu vermitteln, sie nehme sie reihum wahr. Ihr Gesicht mit den sich bewegenden Lippen und der angeklebten Maske wird bereits seit den Achtzigerjahren fotografiert. Teleobjektive versuchen, sich in die Übergänge von der Wangenhaut und der Nase zur Maske zu klemmen, man will herausfinden, ob Silva wirklich nicht sieht. Nicht sehen kann. Oder immer schon blind war. Oder ob ihre Augen abgestorben sind. Oder ob dort überhaupt noch Augen sind, wo sie sein sollten.
"Dieses Gespeistwerden darfst du gerne Vampirismus nennen. Wir haben damit kein Berührungsproblem. Für uns ist nichts mehr Leben als der Traum. Er wünscht und fürchtet, und beides bedeutet ihm gleich viel. Wir werden niemals das wissen, was er immer schon weiß. Der Traum springt, er hat den Vorsprung. Er ändert sich zuerst. Er bleibt der Königsweg. Er ist unser geliebter Gegenspieler, denn er kann alles, er zeigt uns alles, aber er kennt keinen Wunsch nach Dunkelheit und Nichts. Spätestens an dem, was er verschweigt, fassen wir ihn."
Unter den Inneren herrscht das Prinzip des Ein- und Weiterschwingens: Wer sehr spät schlafen geht, tief in der Nacht, beendet seinen oder ihren Turnus mit den ersten Träumen der Sehenden. Trägt diese Träume mit sich und bringt sie voran, befruchtet mit einem kleinen lebenden Sehenden-Traum der Anfänger einen der riesigen toten Menschheits-Träume der Inneren - und vergrößert ihn dadurch.
"Ich träume nichts wahrhaftig Persönliches, sondern das, was hereinkommt. Wir Inneren glauben, dass wenigstens einer von uns Erwachenden einen solchen verlängerten Traum in wenigstens einem der frisch für uns einströmenden Sehenden-Träume wiedertreffen wird. Wir finden und ergreifen. Es ist ein nie endendes Trapez-Kunststück, mit fliegendem Wechsel direkt vor und direkt nach dem Schlaf, ich erlebe es immer wieder. Hätte ich es nie erlebt, gäbe es uns nicht."
Die Novizen in der Zentrale am Ende der Leitungen wählen ihre Sprache aus und kürzen und übersetzen, falls nötig, strikt wörtlich, das Maß der Verfälschung wird ertragen. Der kurzzeitige Versuch, aus allen elektronischen Texten Sprachdateien zu machen - mit einer anfangs noch metallisch klingenden Vorlesestimme -, auf Norwegisch, Schwedisch, Finnisch, Dänisch, Englisch, Russisch und Deutsch, wurde schnell wieder fallengelassen. Längst gilt in borealis: entweder Lesetext oder vorlesender Novize. Ist das Aufkommen zu hoch und droht die Pipeline zu verstopfen, darf keineswegs ein Zufallsmoment entscheiden, wer zu den Inneren durchdringt, sondern der Preis für die Anfänger steigt. Entscheidend bleibt, dass wer schickt, gehört wird.
"Unser Erfolgsgeheimnis. Niemand interessiert sich wahrhaft für deinen Traum, das weißt du, niemand will ihn, niemand auf der Welt - nur wir. Erzählst du deiner Frau morgens, was nachts in dir getobt hat? Sie hört aus Höflichkeit zu, selbst wenn sie darin vorkam. Wir dagegen saugen. Der Teilchenstrom erreicht die Detektoren am festen Platz. Wenn du mindestens zehn Jahre unserer speziellen Dunkelheit hinter dir hast, träumst du nichts Relevantes mehr, dafür teilst du viel zu viel mit den anderen, die dasselbe Leben führen wie du."
Tritt Silva frühmorgens aus der Dusche und stellt das rauschende Wasser ab, betätigt sie mit der Linken den Bereitschaftsknopf auf einer Schalterleiste, während ihre Rechte das große Handtuch gleich daneben vom gewohnten Haken hebt. Ein Knacken im dampfgeschützten Lautsprechersystem der Decke ertönt, und auch der Flur und die anderen beiden Räume ihrer Null-Lumen-Zelle schalten sich dazu. Hallend fragt die Novizenstimme: "Guten Morgen, 1, bereit für die Übernahme?" Der Novize nennt nie diejenigen, die bisher wach waren oder es noch sind, denn es muss einerlei sein, ob 6 oder 15 oder 24 teilnehmen. Ohne Unterschied. Silva presst sich das Handtuch auf das nasse Haar, reibt sich die Ohren trocken und drückt den zweiten Knopf der Leiste, der der Zentrale ihre Bereitschaft signalisiert. Das "Guten Morgen" hat nichts zu bedeuten in borealis, Silva kümmert sich seit Jahrzehnten nicht mehr um Uhrzeiten, und Tageslichteinteilungen sind eine Eigenart der Sehenden. Das "Guten Morgen" hat überlebt, weil es noch nichts anderes gibt, das nicht falsch klänge. Während sie ihr Haar auswringt, dauert es nur wenige Sekunden, dann hört sie ein einleitendes Räuspern des Novizen. Silva wischt sich die Brüste trocken. Sie besteht auf männlichen Novizen. Er nennt Geschlecht, Alter und Wohnort der Träumenden, bevor deren eintausend Anschläge folgen. Silva lächelt, rubbelt sich die Knie ab und die Fußsohlen. Sie ist Ohr. Nichts geht verloren.