Am Erker 68

 
Texte
Am Erker 68, Münster, Dezember 2014
 

Sabine Haupt
Geisterstunde

"Nun bist du also tot." - Schon als sie das Badezimmer betreten hatte, war da ein flüchtiges Etwas gewesen, dort in der Ecke, ein winziges, kaum wahrnehmbares Ereignis neben dem dunklen Fleck an der Wanne. Wäre es ein Zittern der Gardine oder ein von außen in den Raum fallender Schatten gewesen, sie hätte es sofort bemerkt. Sie hätte das Licht angeknipst, hätte die Gardinen zugezogen, das Fenster geöffnet oder mit sonst einer knappen Geste die leise Ordnung aus Licht und Stille wiederhergestellt. Doch es war kein Zittern gewesen, kein Schatten, kein Geräusch. Und so war sie vor den Spiegel getreten, hatte das Fläschchen vorsichtig aus dem Schrank genommen, hatte es geschüttelt, ordnungsgemäß genau zehn Mal, hatte dann fünf Tropfen in ein Glas geträufelt, sorgfältig jeden Tropfen mit derselben Geschwindigkeit, hatte Wasser nachgefüllt und die verdünnte Lösung getrunken, langsam und konzentriert, ganz wie es der Arzt angeordnet hatte, damals vor drei Wochen, als sie nachmittags in seiner abgedunkelten Praxis gesessen hatte, neben dem geschlossenen Fenster - die Fragen des Arztes wie ein Echo ihrer eigenen Stimme. Wie konnte er wissen, was mit ihr geschehen war?
Draußen, hinter den Vorhängen, wusste sie den See. Er konnte nur wenige hundert Meter entfernt liegen. Manchmal stieg vielleicht das Wasser und man musste die Türen mit Sandsäcken verbarrikadieren, einen Schutzwall aus Erde errichten. Ein Haus, so dicht am Wasser, musste gehütet werden, natürlich auch nachts. Vermutlich gab es am Eingang zur Praxis eine Alarmanlage, oder wenigstens ein Sicherheitsschloss mit Türverriegelung. Es hätte in dieser Jahreszeit schon stürmen, sogar schneien können. In vielen Jahren war es so gewesen, ohne dass es besonders aufgefallen wäre. Doch sie hatte, während sich die Fragen des Arztes vor ihr auftürmten - wie wurden Sie gezeugt? Auf welcher Seite schlafen Sie abends ein? Vertragen Sie Regen und Kälte? Haben Sie Angst vor Hunden? Wo waren Sie vor Ihrer Geburt? -, immer wieder daran denken müssen, dass sie ja ohne Schirm gekommen war und jetzt, nach über zwei Stunden hinter den geschlossenen Vorhängen, keine Ahnung hatte, wie das Wetter auf dem Heimweg sein würde. Schließlich hatte er alles aufgeschrieben, gelächelt, die Krankenakte in seine kleine, schwarze Schreibmaschine eingespannt und minutenlang betippt, war dann in den Nebenraum, den er beim Herausgehen flüsternd seine "Asservatenkammer" nannte, gegangen, und hatte die Tropfen geholt. Datura stramonium, Stechapfel. Sie kannte den Namen aus einem alten Märchen. Dort war Datura das Gift gewesen, mit dem die Braut des Helden getötet werden sollte. "Datura fastuosa" hieß das Märchen, der stolze Stechapfel, ein Nachtschattengewächs. Mit ihren großen, leuchtenden Trompeten, die sich nachts öffneten und ihren Duft ins Freie verströmten, diesen üppigen Blütenkelchen, deren Farben und Formen sich meterhoch über die einfachen Regeln der Schönheit erhoben und hinwegsetzten, gehörte die Datura zu den Blumen des Bösen. Das jedenfalls war in etwa der Sinn des Märchens gewesen. Sie wusste nicht mehr, wie es ausgegangen war, nur an den Namen konnte sie sich erinnern und dass es der Name einer Blume gewesen war, einer märchenhaft schönen, doch hochgiftigen Blume.
Sie hatte, nachdem sie die Tropfen abgezählt und das Glas zum Verdünnen geschwenkt hatte, beim Trinken leicht den Kopf angehoben. Dabei war ihr Blick in den Spiegel gefallen. Flüchtig, doch lange genug, um zu sehen, was nicht zu erkennen war. Dort hinten im Sessel, neben der Wanne, dort war es gewesen. Dort hatte er früher oft gesessen und ihr beim Baden zugeschaut. Er hatte ihr vorgelesen, russische Märchen, Gedichte von Poe oder Pound, hatte von seiner Kindheit in Syrien erzählt, von seinen Ausgrabungen in Mauretanien oder von Voodoo-Ritualen auf Haiti. Sie hatte mit geschlossenen Augen im Wasser gelegen, hatte im Takt seiner Stimme die Hand über den Schaum gleiten lassen und gedacht, dass das alles nie zu Ende gehen dürfe.
"Nun bist du also tot", sagte sie, ohne sich umzudrehen. Es war still. Sie spürte noch den Nachgeschmack der Tropfen, ihre Zunge war bitter und schwer, sie wusste, dass es jetzt keine passenden Fragen gab. Vielleicht war es ihr Herz, das da klopfte, vielleicht auch nur der Regen am Fenster. Er schwieg. Was hätte er auch sagen sollen? Als Toter, abends im Dunkeln? Damals, als er aufgestanden und gegangen und sie noch im Wasser gelegen war, hatte er auch nichts gesagt. Stundenlang noch war sie in der Wanne geblieben. Es war Nacht geworden, dunkel und kalt. Sie hatte die Treppe gehört, danach die Autotüre und den Motor. Und still war es geworden. Nur noch still. Lange bevor die Unruhe gekommen war und die Angst. Lange bevor einer gefragt hatte, wo sie vor der Geburt gewesen war. Und danach? Was war nach der Geburt gewesen? Was war geschehen, als sie wieder zu sich gekommen und aus der Wanne gestiegen war?
Manchmal hatte sie sich vorgestellt, wie sich ein luftiger Wall um ihr Haus legte, wie sie dort alleine war, ganz ohne Menschen, verborgen hinter einer durchsichtigen Wand, und wenn sie nachts das Fenster öffnete, käme der Duft des Waldes herein. Nur der Duft, sonst nichts. Und sie hätte sich abends nicht länger einschließen müssen, hätte im Nebenraum und überall das Licht gelöscht, wäre im Dunklen vielleicht sogar nochmals in den Garten gegangen, hätte in der Ferne den See und das jenseitige Ufer glitzern gesehen, hätte das feuchte Gras gerochen und das Feuer in den Kaminen der Nachbarn. Es wäre gewesen wie nach einem großen Schrecken, wenn die Körperzellen noch etwas länger brauchten, um auszuatmen und sich wieder zu dehnen, wenn schon alles wieder ruhig und gut war, obwohl das Herz noch raste und der Druck hinter den Augen noch deutlich zu spüren war. Doch vielleicht war sie nie wieder zu sich gekommen. Vielleicht war ein Teil von ihr damals im Wasser geblieben und lauschte noch immer seinen Erzählungen.
Er hatte über die Ausgrabungen in Mauretanien berichtet, über Chinguetti, die heilige Stadt, und ihre Bibliotheken. Er war im Auftrag der Unesco dorthin gereist, sollte mit den Patriarchen über die Restauration der Bücher verhandeln. Schwierig sei das gewesen, weil die uralten Bücher das Einzige gewesen seien, was ihnen geblieben war. Er habe damals keines der Bücher retten können, erst viel später auf seiner zweiten Reise. Sie schloss die Augen und ließ seine Erzählung hochsteigen. "Tief unter unseren Füßen, versteckt im Sand, liegt das alte Chinguetti, die Perle der Wüste, die herrlichste Oase der Südsahara und eine der sieben heiligen Städte des Islam. Während ihrer Blütezeit wurde das ganze Land nach ihr benannt. Die Moscheen waren so zahlreich, dass die Gesänge der Muezzin weit in die Runde hallten, über den grünen Ring der Palmen hinaus, dahin, wo die Nomaden die Addax-Antilope jagten. Endlose Karawanen - tausende von Dromedaren brachten Datteln, Salz, Gold, Hanf. Chinguetti diente als Brücke zwischen den verschiedenen Wüstenvölkern, den Arabern, den Berbern, den Schwarzen. Die ganze Stadt war eine einzige Karawanserei; die schattigen Innenhöfe angefüllt mit Nomaden und dem Raunen ihrer Geschichten; wunderschöne Frauen glitten durch die engen Gassen und bewirteten die Reisenden mit Tee. Dabei glänzte ihr Lächeln wie der schwere Silberschmuck, den sie um Hals und Arme trugen. Hier machten die Pilger Halt auf ihrem langen Weg nach Mekka. Bevor sie wieder aufbrachen, nur geführt von ihrem Glauben und dem Stand der Sterne, lasen und schrieben sie die heiligen Bücher der Stadt. Alle Gelehrten der arabischen Welt kamen nach Chinguetti. Zum Lesen, Meditieren, Unterrichten. Doch vor allem, um zu schreiben. Bei jeder Reise ein neues Buch. Auf tausenden und abertausenden Pergamenten ist die Chronik der Wüste überliefert, Gedichte, die auf dem langen Ritt durch Hitze und Staub entstanden, astronomische Berechnungen, Sternenverzeichnisse, die Gesänge der Propheten. Doch dann ist die Sonne Tag für Tag früher am Himmel gestanden, die Antilopen sind verschwunden, die Palmen vertrocknet. Und der Stern von Chinguetti verblasste. Seitdem lastet der Sand wie ein Fluch über der Stadt, er nimmt und frisst und vergräbt alles unter einem dichten, schweren Tuch. Nur die Bücher sind noch erhalten, fast jede Familie besitzt eine Bibliothek mit uralten Bänden."
In der Wanne war es gewesen wie nirgends sonst. Wenn sie die Unterwäsche abgelegt, hineingestiegen und ganz langsam im Wasser versunken war, hatte es da immer diese dreißig Sekunden gegeben, dreißig Sekunden reines Glück. Opium fühlte sich so an, vielleicht auch ein Sturz aus dem Himmel, wenn sich in tausend Metern Höhe der Fallschirm öffnete. Sie konnte sich ganz in die Wärme vergraben, etwas ging auf in ihr, sobald sich das Wasser um ihre Brust schloss.
Worüber konnte sie mit dem Toten reden? Über das, was sie damals, als sie so still und glücklich in der Wanne gelegen hatte, falsch gemacht hatte? Über das, was sie versäumt hatte zu sagen, versäumt zu denken, zu sehen, zu bewahren, zu zeigen? "Du sollst mir zuhören, wenn ich Dir von dort erzähle", hatte er gesagt, und dann fast zornig: "Du wirst nie zu mir in die Wüste kommen und erfahren, was in der Tiefe liegt." Sie hatte die Augen geschlossen gehalten, sich nicht gerührt. Und er war aufgestanden, hatte das Handtuch, das auf seinen Knien lag, auf den Boden geworfen, hatte das Licht ausgeknipst und das Badezimmer verlassen.
An jenem Abend hatte er ihr erzählt, wie auf Haiti Zombies gemacht werden, welche Gifte die Priester dafür verwenden und wie viele Tage oder Wochen das Ritual dauert. Er kannte die Namen der Alkaloide, wusste, welche Halluzinationen sie hervorriefen, dass Tollkirsche die Pupillen erweitert und den Herzschlag erhöht, dass der Stechapfel die Muskeln lähmt und Panikanfälle bewirkt, dass die Tänzer in Trance vollständig das Gefühl für Raum und Zeit verlieren, dass das Gift aus den Drüsen der Aga-Kröte oder den Eierstöcken des Kugelfischs zu Starrkrämpfen führt, und dies bei vollem Bewusstsein, ganz als wäre der Geist im Körper gefangen. Dass die Zombies beerdigt und wieder ausgegraben, mit Pflanzengift willenlos gemacht und zur Sklaverei gezwungen wurden. Sie hätten, so erzählte er, in diesen magischen Kreisen gelegen wie lebendig begraben. Und sie hätten kein Totenglöckchen gehabt wie die lebenden Toten in Transsylvanien, mit denen man Alarm läuten konnte, wenn man im Sarg erwachte. Nein, die Zombies von Haiti waren ganz und gar verloren, weil, so sagte er, etwas wie die Seele aus ihnen herausgeflossen war und nie wieder zurückkam. Ihm selbst waren diese Wesen nie begegnet, doch er hatte in Gros Morne, im Norden der Insel, einen kanadischen Anthropologen getroffen, der sich schon seit Jahrzehnten mit dem Phänomen beschäftigte und zahlreiche Zeugenberichte gesammelt hatte. Es bestehe keinerlei Zweifel, dass es diese Zombies auf Haiti gebe oder zumindest gegeben habe, bei solchen Ritualen stoße die Schulmedizin eben an ihre Grenzen.
Er erzählte das mit großem Ernst, wie einer, der etwas suchte oder vermisste und das Verlorene nun so genau wie möglich beschrieb, ja beschwor, ganz als müsse es nun, während er es erzählte, in ihrem eigenen Geist auferstehen, wieder lebendig werden und von ihr zu ihm zurückfließen. Doch sie hatte nur dagelegen, mit geschlossenen Augen, und gelauscht. Vielleicht hätte sie ihn anschauen sollen. Vielleicht hätte sie dann bemerkt, was mit ihm war.
Wenn sie sich umdrehte, würde es verschwinden. Das spürte sie deutlich, als sie das Fläschchen zurückstellte und das Glas hinter das Waschbecken schob. Der Sessel neben der Wanne war sein Platz. Von dort aus konnte er sprechen. So war es all die Jahre gewesen. Und ihr Körper, ihr gesamter Körper, dort neben ihm im warmen Wasser, hatte seine Worte aufgenommen, in ihre Art, in das, was in ihr vorkam, übersetzt. Doch er hatte wohl nicht gereicht, ihr Körper war zu klein gewesen, hatte seiner Rede zu wenig Resonanz geboten. Sie schaute in den Spiegel und suchte nach etwas, das sie kannte, etwas im dunklen Hintergrund, das sie an ihn erinnerte.
Seine letzte Nachricht war aus Homs gekommen, vor einigen Tagen, er musste heimlich über die libanesische Grenze ins Land gekommen sein. Zwei Tage, nachdem die Pipeline in Brand gesetzt worden war. Bei dem Anschlag und den Aufständen danach waren über sechzig Menschen ums Leben gekommen. Sie hatte davon in den Zeitungen gelesen. Es hieß, das Regime werde sich nicht mehr lange halten. Er hatte immer wieder Wege gefunden, in sein Land zu reisen, meistens illegale. Manchmal war er nur wenige Tage unterwegs. Doch wenn er länger blieb, kam er traurig und gereizt zurück. Am besten war es, wenn er einer offiziellen Einladung folgte. So war er vor einigen Jahren mit einem spanischen Team zu Ausgrabungen nach Homs gereist. Im Westen war kurz zuvor die Stadt Tell al-Marj entdeckt worden, eine neolithische Siedlung, in der eine besondere Keramik hergestellt wurde. Man hatte dort kleine Tonfiguren gefunden, Menschen mit Stierköpfen, Schlangen oder Fische mit sehr runden Bäuchen. Ein paar davon hatte er ihr mitgebracht. Sie waren in einer Schachtel verpackt gewesen, bei der man einzelne kleine Schubladen aufziehen konnte. Sie hatte ihm versprechen müssen, die Figuren dorthin zurückzulegen. Sie hätten so lange unter der Erde gelegen, hatte er gesagt, da dürfe man sie jetzt im Licht nicht erschrecken. Wiedergeburt sei schließlich keine Pauschalreise.
Stundenlang hatte sie gesucht, erst im Bad, dann im ganzen Haus. Die Schachtel war leer, das war nicht zu leugnen gewesen. Doch sie war sich keiner Schuld bewusst, konnte sich nicht daran erinnern, die Figuren herausgenommen und verlegt zu haben. Vielleicht hatte er selbst sie mitgenommen oder an einen anderen Ort gebracht?
Sie wusch sich die Hände und nahm das Handtuch von der Sessellehne. Es war feucht. Sie musste das Fenster schließen. Im Radio hatte man für heute Nacht einen Sturm angekündigt. Nichts Besonderes in dieser Jahreszeit.