Am Erker 66

 
Texte
Am Erker 66, Münster, Dezember 2013
 

Andrea Schaumlöffel
VIII. Akt

Tab. Tab, tab. Immer wieder erstaunlich, wie weich er ist, trotz seiner nur fünf Millimeter Dicke, von der die Hälfte krustig-harter Haftboden ist, auf dem die flaumigen grünen Plastikhärchen kleben. Mein Teppich ist ein Scheidungskind. Nach der Emotionen- kam die Gütertrennung, bei der mir das Sorgerecht für den Teppich zufiel; hauptsächlich, weil mein ehemaliger Lebensmittelpunkt ihn schon vor anderthalb Jahren aussortiert und in der Besenkammer verstaut hatte. Jetzt liegt er, also der Teppich, auf dem Balkon.
Der Balkon. Sinnbild des Lebens. Die Welt steht still, der Morgen hängt im Nichts, die Zeit hat sich vergessen. Kühle wickelt sich um meine Arme und Beine. Der Morgen auf dem Balkon ist vor allem eine voluminöse Kulisse aus dem Gesang anonymer, unsichtbarer Vögel. Anderes quirlt sich mit hinein, keinesfalls störend. Chloé manifestiert sich rituell zu meiner Rechten, doch stört sie diesmal etwas im Wasser - einer abgestandenen Erinnerung an den Vortag -, weshalb sie immer wieder die linke Pfote mit den altrosa prallen Zehenballen in die elfenbeinfarbene Porzellanschale schlägt und einen fragilen Ton erzeugt. Sachte und kristallklar flirrt er davon: pling. Den Ton kenne ich, er versetzt mich sechs Jahre zurück in die Wildnis Norwegens, in der mich jene zarte Akustik ein Stück des Weges begleitete, bis ich schließlich ihren Ursprung erfuhr. Kuhglocken. Jetzt: Katzenpfote. Neues Setting, neues Leben. Neues Spiel, neues Glück. Die Kürbisknospe ist über Nacht zur Kürbisblüte geworden, groß und grell frohlockt sie in die blaue Reinheit ihres kurzen Lebens und lullt mich ein in eine bukettreiche Schwere, vollmundig und betörend während des ersten Atemzugs, aber dann doch floral im Abgang. Auch dieses Jahr habe ich wieder versucht, aus Samen und Kernen Pflanzen zu ziehen, und zum ersten Mal sind alle Versuche geglückt, mit dem Ergebnis, dass der Balkon überladen ist mit verschieden hohen Büscheln Tomatenkraut und Kichererbsen, einer schlanken Avocado, weißblühendem Basilikum, einer ganzen Saatmischung "Essbare Blüten" aus der Drogerie und etwa einem Dutzend Kürbispflanzen, die sich an allen Ecken und Enden um, an, auf und in den Balkon ranken; ja, diese Monster haben geradezu ein Eigenleben entwickelt, und ich versuche sie täglich im Zaum zu halten und gleichzeitig zum Weiterwachsen zu ermuntern. Bestäube liebevoll mit einem Wattestäbchen von Hand, wässere nicht zu viel und nicht zu wenig, schneide auch bisweilen die von Pelz fleckigen Blätter ab, damit der Mehltau nicht auf die blassgelben Hokkaidobabys kriecht. Möchte ich doch alles richtig machen mit den Kürbissen, damit wenigstens einmal in meinem Leben etwas Früchte trägt. Chloé leckt sich die schwarzweißen Haare wieder zurecht.
Ich fühle mich beobachtet, es ist der Kaffee. Der Milchschaum starrt mich aus unzähligen, weit aufgerissenen, blanken Augen an, als könne er nicht glauben, mich hier anzutreffen. Ich glaube es ja selbst nicht. Denn dieses Leben ist nicht meins, es ist nur geliehen, übergestreift. Vielleicht muss man es nur ein wenig länger ertragen, damit es einem endlich besser passt. An der Balkontür wallt und wabert die Heimeligkeit. Vertraut kommt von Vertrauen. Zuverlässig kratzt der Server im Wohnzimmer, jener formlose Monolith, an dessen vergitterter Front sich der Hausstaub fluffig klumpt wie ein in die Jahre gekommener Miniaturflokati, und stürzt fast nie ab, diese Vorratskammer unserer digitalen Existenz. Beruhigend, dass er läuft. Aber muss das Funktionieren hinter meinem Rücken immer so laut sein? Ein wenig bleibe ich noch auf dem Balkon, jede Minute hier ist kostbar.
Der Balkon. Sinnbild der Standhaftigkeit. Regen, Schnee, Moos, Vogelscheiße, er trotzte stoisch. Bis ich kam. Nun braucht er Zuwendung, der Balkon. Hat einen persönlichen Anstrich erhalten: einen rustikalen Holztisch, Klappstühle, Traumfänger hier und schmiedeeiserne Laterne da. Nicht zu vergessen der Teppich, der millimetergenau angepasste, weiche, obwohl dünne, waldgrüne Teppich, der im ersten zaghaften Sonnenlicht den Fußsohlen schmeichelt. Jetzt muss der Balkon gehegt und gepflegt werden; da sind die Blumenkästen, die nach Wasser schreien, sobald die Temperatur ins Sommerliche steigt; die Tischplatte muss abgewischt werden, das Schutznetz für die Katze müsste möglichst bald die stattlichen fünf Meter Umfang säumen, damit sie auch mal alleine rauskann. Ein Auge sollte man schon auf den Balkon haben. Aber nicht jetzt.
Die Zeit des Abschiednehmens ist gekommen. Im Schlafzimmer ist es wärmer. Da ist sie, die Wurzel allen Übels, der Fels in der Brandung. Die Schaumkrone der Woge der Begeisterung. In der bauschigen Bettenlandschaft, zerzaust, wunderschön. Gehe ich mit oder gehe ich ohne? Gehe ich mit, laufe ich Gefahr, einen schlafenden Geist zu wecken. Gehe ich ohne, werde ich mir das den ganzen Tag nicht verzeihen. Also mit. Ich dringe ein in dieses friedliche Stillleben, das vor mir ausgebreitet liegt, und kann dem Verlangen nach Berührung nicht widerstehen. Kuss.
Tab, tab, tab, tab, tab, tab, tab. Klapp. Hallo, neues Leben.