Texte
Am Erker 52, Münster, November 2006
 

Michael Weins
Jagdgeschichten

1. Auf dem Amt

Jetzt kommt es auf den Plan an, denke ich, während es abwärts geht. Ich stehe im Fahrstuhl und betrachte mich im Spiegel. Jetzt wird sich zeigen, ob der Plan gut ist und ob ich schnell genug bin. Ich muss schneller als alle anderen sein. Ich rümpfe versuchsweise die Nase, ein taubes Gefühl. Ich sehe mit der Klappe überhaupt nicht aus wie ein Pirat, eher wie ein sehbehindertes Kind. Ich gehe noch einmal die Liste durch. Nicht stehen bleiben, lese ich unter 'Grundsätzliches'. Der Sender lässt sich orten, wenn ich mich drei Minuten nicht bewege. Der Fahrstuhl hält. Unter der Überschrift 'Plan'; steht: Erstens. Im Take-Away-Café im Erdgeschoss ein Plastikmesser und eine Plastikgabel entwenden. Sehr gut, denke ich. Guter Plan.
Herzliches Beileid, sagt die Bedienung mit den nussbraunen Haaren, die nachschaut, was ich am Besteckkasten mache. Sie guckt die Augenklappe an. Ich sollte sie nicht tragen, aber das Licht ist zu grell und das Auge schmerzt. Ich brauche eine Sonnenbrille. Das hatte ich vergessen. Die Bedienung dreht sich weg, weil ein Kunde sie anspricht. Moment, sagt sie. Meine Hand schließt sich um das Messer in meiner Tasche, so fest, dass das Plastik in mein Fleisch schneidet.

2. In der U-Bahn

Ich schaue zum Monitor hoch, der die Fahrgäste unterhalten soll. Eine Firma macht Werbung für Klaviere. Ein Junge sitzt auf einem Schemel und spielt Brahms. 'Brahms' steht auf den Notenblättern. Man meint die Musik hören zu können, obwohl man nur die Noten sieht und den Jungen, der seinen Oberkörper vor und zurück wirft. Dann sieht man mein Gesicht, aber das hat schon nichts mehr mit dem Klavierjungen zu tun. Ich trage die Augenklappe und sehe nutzlos aus, ein richtiger Schmarotzer. 'Schmarotzer' steht unter dem Foto, dazu mein Name und wo ich mich aufhalten könnte, meine Adresse, die Adressen und Telefonnummern meiner Freunde und Verwandten, wo ich mein Konto führe, meine Hobbies usw. Außerdem die Summe: 3000 Euro. Ich fühle es unter meiner Augenklappe pochen. 3000 Euro für den Augapfel. Er ist die Trophäe. Jeder darf mich töten, wenn er meinen Augapfel bringt. Ich kann fühlen, wie sich die Blicke in meinen Hinterkopf bohren. Alle erkennen mich, alle denken: 3000 Euro. Ich hätte niemals mit der U-Bahn fahren dürfen. In der Glasscheibe unterhalb des Monitors spiegelt sich eine Oma. Sie erhebt sich wackelig, schaut auf den Bildschirm, wo ich jetzt ohne Augenklappe abgebildet bin. Ich lächele und forme mit den Lippen das Wort 'Käsekuchen'. Sie zieht eine Thermosflasche aus der Handtasche. Sie holt aus, aber ich sitze schon nicht mehr. Ich bin aufgesprungen, die Thermoskanne trifft nur die Lehne. Ich packe die Oma von hinten, drücke ihr das Plastikmesser an den Hals. Die Thermoskanne rollt über den Boden. Keine Bewegung, zische ich. Unter einer Hautfalte sehe ich es heftig pochen. Die Spucke, die aus ihrem Mund läuft, riecht nach Hundekissen.
Dann renne ich den Bahnsteig hinunter und frage mich, wie ich die Zeit aufholen soll. Zwei Frauen kommen mir entgegen. Er ist es, sagt die eine zur anderen. Sie bleibt stehen und ruft: Maurice! Ein Mann am Fahrkartenautomaten dreht sich um. Maurice ist groß und trägt eine Daunenjacke. Da habe ich sie schon getreten.

3. Familientreffen

Mutter, keuche ich im Laufen.
Ich reiße die Augenklappe weg. Das Licht blendet, aber ich kann mich daran gewöhnen. In meinem Blickfeld schwebt unscharf ein schwarzer Fleck. Ich drücke die Stoppuhr, 30 Sekunden, dann werden sie die Spur meines Handys rückverfolgen, dann kann, wer will, meinen Standort im Fernsehen oder auf seinem Display oder wo auch immer nachvollziehen.
Mutter, keuche ich, es geht los, ich muss mich von dir verabschieden.
Nichts, keine Antwort.
Ich will dir Lebewohl sagen. Hast du mich verstanden?
Warte, sagt meine Mutter. Bist du auf dem Amt? Was hat dein Sachbearbeiter gesagt?
Ich bin zum Abschuss freigegeben, sage ich, ich bin ein Schmarotzer.
Siehst du, sagt meine Mutter. Ich habe es dir gesagt. Weil du immer arbeitslos bist. Hast du dir die Angebote angeguckt?
Ich denke an die Angebote. Bei einem Job hätte ich in einer Werbeagentur die Mitarbeiter mit Kaffee versorgen müssen, drei Stockwerke. Bei einem anderen in einer Fabrik Teleskopangeln zusammensetzen. Ich habe die Frist verstreichen lassen.
Mutter, sage ich, ich bin nicht arbeitslos. Ich bin...
Schriftsteller, sagt meine Mutter, ich weiß, das meine ich ja.
Ich muss an meinen Sachbearbeiter denken, der die längsten Wimpern
der Welt besitzt. Er hat mich angesehen wie ein Reh und gesagt, ich sei über 35 Jahre alt, ich würde seit Jahren die staatliche Mindestförderung beziehen, ich hätte noch nichts in die Rentenkasse eingezahlt. Dann hat er die Krankenschwester kommen lassen, die ich aus dem Fernsehen kenne. Die Kameras wurden dichter herangeschoben. Er hat den Sender eigenhändig in mein Auge implantiert.
Gib mir Vater, sage ich, ich will mich von Vater verabschieden.
Das geht nicht, sagt sie.
Mutter, sage ich, ich habe nicht viel Zeit, was ist mit Vater?
Er ist kurz nicht da. Warte. Oder sag mir, wo du bist.
Ich bin stehengeblieben.
Wieso, frage ich.
Er kommt zu dir. Er ist unterwegs. Sag mir, wo du bist, dann kommt er zu dir.
Nein, sage ich.
Bleib, wo du bist, dann kannst du es ihm persönlich sagen.
Nein, sage ich. Ich will nicht, dass mein Vater zu mir kommt. Mein eigener Vater. Ich muss Schluss machen, sage ich.
Warte, sagt meine Mutter. Ich höre, wie sie das Telefon auf die Kommode legt. Ihre Schritte entfernen sich. Mutter, sage ich. Ich schaue auf die Uhr, 46 Sekunden.

4. Messer

Ich laufe durch eine Gasse, von randhohen Häusern bewacht. Mir ist nicht gut, zu warm, zu eng, ich fühle mich krank, als ich die Schritte hinter mir höre. Jemand beschleunigt. Die Schritte werden lauter. Augapfeljägerschritte. Aufhören, denke ich. Aber dann schließt sich meine Hand fester um das Plastik. Ich wirbele herum und drücke es in das Gesicht, das mich anspringt. Ein Mann, mittlerer Angestellter, 36 Jahre alt, braune, gescheitelte Haare, Anzug von C&A. Er reißt mich um, aber das Messer steckt in seiner Wange. Ein blasses Gesicht, ein klaffender Riss, aus dem Dunkelrotes fließt. Die weiße Klinge vibriert. Das Messer ist abgebrochen, den Griff halte ich in meiner Hand. Er rappelt sich auf, hält sich die Wange, schaut mich mit großen Augen an. 3000 Euro, steht da in verschwindender Schrift. Du hast mein Messer kaputt gemacht, brülle ich. Etwas macht eine Bewegung aus mir heraus auf ihn zu. Meine Fäuste fühlen sich warm an, als ich wieder zu mir komme. Ich schaue in den Himmel, zwei Störche ziehen hoch droben durch das Festtagsblau. Auf der Erde weit und breit kein Mensch. Ich nehme zwei von den Tabletten.

5. Mörderbasar

Ich kauere im Schatten hinter Müllcontainern. Ich frage mich, ob ich Monika vertrauen kann. Es sieht ruhig aus rings um ihren Eingang. Es scheint noch keiner da zu sein. Ich ziehe den Rotz hoch, wische mir mit meiner blutigen Hand durchs Gesicht. Monika ist eine entfernte Verwandte, Cousine dritten Grades. Ich habe Monika einmal Geld geliehen, eine dreistellige Summe, und Monika ist Krankenschwester, ein gutes Argument. Ich glaube nicht, dass sie mich zuerst bei ihr vermuten. Bei meinen Eltern wird der Teufel los sein, ganz zu schweigen von meiner Wohnung, dort ist jetzt Mörderbasar. Nur mein Vater könnte auf Monika kommen, mein Vater stellt ein Risiko dar.
Ich kann nicht ewig mit dem Auge herumlaufen, das Auge muss raus. Nach einer Woche kommen die professionellen Jäger, bis dahin will ich weg sein. Es muss schnell gehen. Über die Straße, über die Ampel, dann die Klingel. Von da ab bleiben drei bewegungslose Minuten. Ich frage mich, ob Monika mir mit dem Auge hilft. Ich frage mich, ob sie Grund hat, auf mich böse zu sein. Ich denke daran, wie ich, als wir Kinder waren und ich sie in Ljubljana besuchte, einen Witz über ihre Füße machte vor den anderen. Sie hat außergewöhnlich große Füße für ihren Körper.

6. Sammelalbum

Ich warte an der Ampel. Ich würde gerne laufen, aber es geht nicht. Zwei Jungen nähern sich, neun und zehn Jahre. Sie bleiben schräg hinter mir stehen und tuscheln. Der eine Junge lässt sein Handy piepsen. Es geht um mich, das spüre ich. Ich starre die Ampelmännchen an, als wären meine Augen Umkleidekabinen, sie sollen endlich grüne Kleidung überziehen, weg mit der roten. Sie hören gar nicht wieder auf zu tuscheln. Ich weiß, dass es Sammelalben für Kinder gibt, in die sie die Bilder der Vogelfreien kleben, nicht nur die Arbeitslosen wie mich, auch Kleinkriminelle und kranke Alte. Sie sind ganz heiß auf die Dinger. Und sie tauschen Sammelkarten. Dann spüre ich etwas an meiner Hüfte. Im Fallen schaue ich mich um. Der ohne Handy hat mir einen Stoß gegeben. Er guckt seine Hände an, von sich selbstüberrascht. Sein Gesicht ist in mathematische Falten gelegt. Wie viel sind 3000 Euro in Sammelkarten? Ich rudere mit den Armen, aber es hilft nichts. Ich sehe, wie ein gelbes Auto durch mich hindurch fährt. Es gibt einen Stoß, als hätte ein Kontinent auf meiner Brust Platz genommen. Kann sein, dass ich durch die Luft fliege. Die Autos machen Musik, hübsch, denke ich, obwohl die Musik laut ist, quietschende Musik. Dann wird der Vorhang weggezogen und plötzlich ist nur noch der Asphalt da. Wie intim, nur der Asphalt und ich. Hallo, sage ich, bevor ich einschlage.
Dann setzt die Enttäuschung ein, so kurz vor dem Ziel. Ich muss an Monika denken, an ihre dunklen Locken, die porzellanene Haut. Ich wollte immer mit ihr schlafen, denke ich jetzt, ich habe es mir bloß nie eingestanden. Die beiden Jungen treten in mein Gesichtsfeld. Der eine hat ein Taschenmesser in der Hand. Der andere hält ein Tuch bereit. Ich erkenne alles klar, aber ich kann mich nicht bewegen. Sie beugen sich zu mir herab. Mein Blick fällt auf das Messer, das durch die Luft fährt und keinen Hehl aus seiner Absicht macht. Auge, raunt das Messer, und mein Auge wimmert, denn es will sich weder von mir noch von der Welt trennen, deren Bilder es lieb gewonnen hat über die Jahre. Ich spüre, wie kleine Finger mein Auge vorsichtig aus der Höhle lösen. Sie ziehen den Sehnerv stramm. Ich stelle mir vor, wie es anders weitergeht. Monika sieht mich auf der Straße liegen. Sie steht am Fenster ihrer Wohnung. Dann steht sie neben mir und verteilt Ohrfeigen. Sie hilft mir mit dem Auge. Sie richtet mich auf. Ich sehe mich auf der Schwelle einer Tür stehen und einen Weg hinabgehen, der in die Ferne führt. Ich gehe auf dem Weg in Richtung der schneebedeckten Berge, wo die anderen Einäugigen warten. Aber das ist nicht die Wirklichkeit. In Wirklichkeit ist der Plan gescheitert. In Wirklichkeit kommt jetzt der Schnitt, und ich gleite davon in die Weite, in der es kein Halten mehr gibt, um mich wird es seltsam Licht, und über einen unterirdischen Fluss geweht höre ich eine Kinderstimme sagen: erlegt.