Texte
Am Erker 48, Münster, Dezember 2004
 

Nikolai Vogel
Zarte Pflanze

Mein Küchenradio ist ein empfindliches Gerät. Ein Empfang aus Plastik. Ein Ramsch. Eine zarte Pflanze. Ein Ding der kleinen Differenzen. Ich drehe den Sender rein. Ich höre. Ich empfange. Ich bewege mich. Ein Rauschen folgt mir. Ich bin zurück. Zurück am Radio. Ich empfange. Ich beuge meinen Rumpf. Ein Rauschen umfängt mich. Ich richte mich auf. Ich empfange. Ich und mein Radio. Zusammen empfangen wir. Ich bin der Empfänger. Ich empfange mein Radioprogramm. Mein Radio gibt es mir. Ich drehe an meinem Küchenradio. Ein kleiner Plastikdrehknopf. Ich empfange drei Programme simultan. Ich stelle die Frequenzen ein. Mein Radio lebt von den kleinen Differenzen. Ich berühre den Drehknopf kaum. Es ist Hypnose. Wellenlängen begnügen sich mit Bruchteilen. Ich empfange Musik, ich empfange Gespräch. Ich empfange Musik und Sprache und Rauschen. Ich empfange gleichzeitig. Ich nehme meine Bewegung durch den Raum aus dem Lautsprecher wahr. Ich setze mich. Es rauscht. Ich stehe auf. Es rauscht weniger. Ich gehe zum Radio. Es rauscht anders. Ich lege meinen Finger auf den Drehknopf. Ich empfange. Ich erstarre und empfange. Dreierlei Programme simultan. Vom einen zum anderen sind es nur Gradbruchteile. Das neue Babel macht sich in meiner Küche breit. Es lebt sich aus. In meiner Küche. In mir. Gehe ich aus meiner Küche, gehe ich aus meiner Wohnung, gehe ich aus dem Mietshaus, die Straße entlang zur U-Bahn, stecke ich mir Knopfkopfhörer ins Ohr. Ins linke Ohr. Ins rechte Ohr. Kein Rauschen. Empfang. Musik von der Minidisk. Sprache von der Minidisk. Wie ein Beweis. Mein Küchenradio eine zarte Pflanze. Es ärgert mich und lehrt mich Geduld.
Die Straßenbahn hält zwischen zwei Stationen. Die Straßenbahn bleibt zwischen zwei Stationen stehen. Die Straßenbahn bleibt wiederholt zwischen zwei Stationen stehen. Mehrere Straßenbahnen bleiben wiederholt zwischen zwei Stationen stehen. Die Straßenbahnen bleiben stehen und machen das Licht aus. Die Passagiere sitzen ohne Licht in der Straßenbahn. Ich sitze ohne Licht in der Straßenbahn. Das Licht ist aus. Der Motor ist aus. Die Straßenbahn ist aus. Die Straßenbahn macht das Licht wieder an. Das Licht geht an. Der Motor geht an. Die Straßenbahn geht an. Die Passagiere sitzen im Licht in der Straßenbahn. Ich sitze im Licht in der Straßenbahn. Die Straßenbahn kann wieder fahren. Ich denke an mein Küchenradio. Ich denke an die zarte Pflanze. Mein Küchenradio braucht Zuwendung. Ich denke an die Straßenbahn. Ich denke an den Computer. Haben Straßenbahnen ein Betriebssystem? Seit wann haben Straßenbahnen ein Betriebssystem? Seit wann müssen Straßenbahnen hin und wieder neu starten? Hin und wieder im neuen Babel. Die zarte Pflanze braucht Zuwendung oder sie geht ein.