Michael Esders
Als Onkel Jupp gestorben war, brauchte er keine
Neuigkeiten mehr. Also bekam ich das alte Radio des Fernsehverweigerers:
Nordmende Elektra. Natürlich war ich enttäuscht. Kein
Stereo, kein Hi-Fi, kein Kassettendeck: Ich hatte wieder einmal
den Anschluss an die Zeit verpasst. Onkel Jupps Radio glich eher
einem Möbelstück als einem technischen Gerät. Es
machte aus seinem Inneren ein Geheimnis. Magisches Auge, phosphoreszierender
Grünschimmer. Hinten einige kleine runde Öffnungen,
aus denen es leuchtete.Vorne ein gülden-vergilbtes Gewebe,
das mit der Zeit etwas speckig geworden war. Eine Art Vorhang,
hinter dem sich der Lautsprecher abzeichnete.
Der Apparat hatte wenige Knöpfe aus elfenbeinfarbenem Kunststoff,
die sich nur schwer bewegen ließen. Der UKW-Knopf war sogar
schon eingedrückt. Er hatte Onkel Jupps Daumen zu oft nachgegeben.
Man konnte ihn nur noch mit einem Filzstiftbalken zum Einrasten
brin gen. Die Regler für Lautstärke und Tonhöhe
gaben nur schwer nach. Auch dieser Widerstand gehörte zum
Geheimnis.
Bald merkte ich, dass es etwas zu entdecken gab. Etwas, das gar
nicht für mich bestimmt war. Aus diesem Holzkasten kamen
keine Nachrichten, sondern Botschaften, die ich erst noch entziffern
musste. Man merkte ihnen an, dass sie einen langen Weg durch eine
klirrende Winternacht hinter sich hatten. Ich bevorzugte die Lang-
und Mittelwelle, weil dort die Abnutzung des Schalls am deutlichsten
war. Dem Fernsehen mit seinem Gleichzeitigkeitswahn fehlte dieser
Zauber des nächtlichen Unterwegsseins von Funkturm zu Funkturm.
Während meiner Radiozeit interessierten mich am Fernsehen
nur noch die Unterbrechungen und Pannen, Bild- und Tonstörungen,
die eingeblendeten Funktürme oder Testbilder. "Bitte
haben Sie etwas Geduld."
Oft hatte ich im Radio die vertrauten Stimmen gesucht, um einschlafen
zu können, väterliche und mütterliche Stimmen.
Jetzt suchte ich die Fremde. Langwelle, Ätherreisen über
Täler und Tundren, Gebirge und Buchten. Minsk, Prag, Kalundborg,
Luxemburg, Oslo, Ostzone, Moskau, Tromsö, Hamburg. Stimmengestöber,
Morsezeichen, das Knacken und Knistern, blecherne Musik wie aus
einem alten Grammophon, das Rauschen des Unerhörten im Hintergrund.
Nordmende Elektra, mein Weltempfänger. Mittelwelle, Bologna,
Zagreb, Bari, Rias, Rennes, Monte Ceneri, Beromünster, Hilversum.
Das scharfe Skandieren russischer Sprecher, ein konsonantischer
Dauerbeschuss, snobistische englische Nasale, die komischen holländischen
Gaumenklänge und der eigentlich schon ausgestorbene, schneidende
deutsche Wochenschau-Ton, der auf den Lang- und Mittelwellen ein
letztes Reservat gefunden hatte.
Ich schaltete auf UKW um, wenn mir die anderen Kanäle zu
gruselig wurden. Wetterberichte, Werbung, Nachrichten, beruhigender
Alltag. Aber auch auf UKW konnte man Entdeckungen machen. An der
Grenze der erlaubten Frequenzen gingen Stimmen und Schlager in
lauten Pieptönen unter. Es war die Stelle, an der in normalen
Radios eine Sperre eingebaut war, wie eine Kindersicherung für
Erwachsene.
Einmal hatte ich bei meinem Radiowecker versucht, den Regler mit
Gewalt weiterzudrehen. Es knackte, dann überdrehte der Regler,
ohne dass ich die andere, verbotene Seite der Ätherwelt erreichte.
Erst viel später merkte ich, dass im alten Nordmende-Radio
der Widerstand an der Frequenzgrenze nachgab. Onkel Jupp hatte
also an dem Gerät herumgeschraubt. Er hatte sich nicht mit
den offiziellen Neuigkeiten zufrieden gegeben.
Ich presste mein Ohr an den speckigen Stoff vor dem Lautsprecher.
Ich fühlte mich als Eingeweihter und ahnte, warum dieses
Gewebe mit der Zeit so speckig geworden war. Ich wartete auf Morde,
Banküberfälle, Verfolgungsjagden. Aber ich bekam weit
weniger als erwartet zu hören. Vechta statt Monte Ceneri.
VEC, Victor, Emil, Cäsar. Stille, dann wieder eine Litanei
aus Zahlen und Buchstaben. Zwischendurch ein entlaufener Hund,
ein Betrunkener in der Autobahnraststätte, immerhin das.
Aber keine bekannten Namen.
Ich wartete, aber die Stimmen meldeten sich immer seltener. Und
wenn sie sich meldeten, waren sie so leise, dass ich kaum ein
Wort verstand. Irgendwann verschwanden sie ganz. Wackelkontakt,
dachte ich und klopfte auf den Holzkasten, schlug, trommelte.
Aber es tat sich nichts. Nur ein entferntes Piepen, eine nicht
einmal mit Rauschen ausgefüllte Stille.
Ich schaltete wieder auf Langwelle um. Der Äther hatte mir
noch einiges vorenthalten. Ich hatte gerade etwas von Botschaften
aus dem Jenseits gelesen und war mir sicher, dass sich in das
Äthergetöse auch die Toten einstimmten. Die brauchten
keinen Sender und keinen Funkturm. Vielleicht war das Rauschen
ein riesiger Chor Lebender und Toter, unzählige Stimmen,
die sich überlagerten und gegenseitig zu feinsten Schallpartikeln
zerstäubten. "Rhabarber, Rhabarber, Rhabarber."
Ich musste an den alten Hörspieltrick denken, mit dem man
ein Getuschel im Hintergrund künstlich erzeugen konnte. Einige
Stimmen traten aus dem Schallstaub hervor. Flackernd waren sie,
dabei aber doch durch dringend. Die Toten sprachen blechern und
gedehnt. Sie hörten sich an wie die Stimmen auf einem zu
langsam abgespielten Tonband.
Lange Winternachmittage drehte ich den Regler für den Skalenzeiger
hin und her, immer auf der Suche nach Überirdischem. Langsam
und ganz vorsichtig, um keine Botschaft zu überspringen.
Nach einer halben Stunde wurde ich ungeduldig. Wenigstens Onkel
Jupp hätte sich doch auf seiner Nordmende Elektra zu Wort
melden können. Ich rief seinen Namen und versuchte meine
Gedanken ganz auf ihn zu konzentrieren, auf seine Hornbrille,
seine Glatze, seinen Daumenabdruck auf der UKW-Taste. Dann holte
ich seine Taschenuhr, die ich im hintersten Winkel des Wohnzimmerschranks
gefunden hatte. Ich hielt die Uhr, die bei zehn vor acht stehen
geblieben war, vor das Radio, ließ sie pendeln, rief wieder
und wieder seinen Namen. Es half nichts. Vielleicht versteckte
er sich hinter tschechischen Wetterberichten oder dänischen
Gutenachtgeschichten. Vielleicht hatte er heute anderes zu tun.
Dann merkte ich, dass es inzwischen dunkel geworden war. Mein
Handgelenk schmerzte, mein linkes Bein war eingeschlafen. Ich
durchsuchte noch einmal die gesamte Skala von links nach rechts.
Dann gab ich auf und zog den Stecker raus. Der Grünschimmer
des magischen Auges erlosch erst, als ich schon im Bett lag. Noch
vor dem Einschlafen beschloss ich, gleich morgen mit meiner Oma
einen Jenseitskanal zu vereinbaren. Sie würde sich an die
Verabredung halten und sicher deutlicher sprechen als Onkel Jupp.
Auf Langwelle, genau in der Mitte zwischen Oslo und Ostzone.
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