Texte
Am Erker 47, Münster, Juni 2004
 

Marianne Glasser
Winterreise

Im Halbdunkel liegen. Die Lichtinsel über dem Tisch wahrnehmen, deinen dunklen Kopf, der sich über die Kataloge beugt, die raschelnden bunten und meerblauen Seiten. Wir schneiden eine Woche aus dem Winter heraus. Du sagst es eifrig und hell. Eine Januarwoche in Polynesien. Das wär's.

Du wirfst mir die Namen einiger Inseln zu, ich werfe sie zu dir zurück, dabei klicken sie aneinander wie Murmeln in Kinderhänden. Aitutaki, Tuvalu, Vanuatu, Kiribati. Und dann liegen wir vor diesem Meerblau, im hellen Korallensand, und ich kann zusehen, wie sich die Landschaft um uns belebt. Der Wind holt Atem und bläst die Wolken als Federn davon. Der Himmel über unsern Gesichtern öffnet ein Fenster für einen Stern. Und jetzt ist auch Gauguin wieder da, steht am Wasser und malt uns neue Gesichter, und der Einsiedlerkrebs, unser Sandnachbar, windet sich aus seinem Schneckengehäuse, schenkt es uns, wandert weiter, und wir gleiten hinein in die engen Gänge, finden uns, glauben dem Meer sein Rauschen, Ohr an Ohr. Polynesien.

Daliegen. Immer deutlicher fühlen, wie kühl es am Körper ist. Der Lichtkreis über dem Tisch liegt leer. Du bist ja nicht mehr da. Vielleicht sitzt du jetzt am Abendbrottisch, bei deiner Freundin, in ihrer Wohnung. Die Frau im roten Pullover, der Tisch mit den gelben Tassen, und du gelöst und zugewandt. � Ich hab die Kataloge mitgebracht. An welchen Ort dachtest du? � Schweiz vielleicht, sagt sie und beugt ihren Kopf neben deinem über die Seiten. Skifahren würde ich gern mal wieder. Und du? � Ich dachte an Polynesien. Das wär's. Halb bewundernd, halb nachsichtig sieht sie dich an. � Ach du, sagt sie. Südsee. Sonnenuntergänge am Sandstrand? Außerdem haben wir nur eine Woche Urlaub.

Während du dort die gelben Tassen beiseite schiebst und auf den bunten schneeglitzernden Seiten nach einem Hotel in der Schweiz suchst, möglichst nah an den Skiliften, aber nicht allzu weit von der Stadt, etwas Kultur, Konzerte vielleicht, Sauna, Solarium, falls es immerzu schneit, natürlich Frühstücksbüffet, stehe ich hier vom Sofa auf, gehe zur Tür, überblicke noch einmal den Raum und versenke mit kurzem Druck auf den Schalter die Wirklichkeit. Taste mich durch das Dunkel ins andere Zimmer hinüber. Vor den Fenstern, unter dem Mond, schimmert der Schnee bläulich-weiß. Korallensand ist es. Ich schlafe. Ich gehe. Ich träume. Wolkenfeder. Sternenfenster. Sandschlaf. Gauguin läuft draußen über das Eis. Du fährst nicht nach Polynesien, mit deiner Freundin. Die Insel gehört mir allein.