Hans Dieter Schäfer
11. 9. 1980 Auf dem Platz vor dem PALAST DER
REPUBLIK wenig Menschen im Vergleich zu seiner Größe,
unten an der Treppe eine Pachttoilette "Benutzung 0,10. Ehrenurkunde
für die erfolgreiche Teilnahme am ND-GASTSTÄTTENWETTBEWERB
1979 in Berlin, Hauptstadt der DDR". Das Universitätsviertel,
trübe, breite Straßen, kaum Autos und Passanten. DIE
IM WINDE KLIRRENDEN FAHNEN. Vor einem Studentenheim werden aus
einem LKW mit der Aufschrift HUMBOLDT UNIVERSITÄT mehrere
Paletten Schnapskartons ausgeladen. Durch die beleuchtete Vorhalle
des METROPOL-Hotels Araber im Gänsemarsch mit Plastiktüten
in der Rechten, ein Traktor zieht Kulissen auf Rollen zur Staatsoper,
davor ein Möbelwagen, mit Kreide TOSCA, 1. BILD. Leere Straßenbahnen.
(...)
12. 9. 1980 Im AXEL-SPRINGER-HAUS zeigt mir ein
Redakteur der WELT die Privaträume, die im 18. Stock liegen.
Lediglich im Speisezimmer für zehn Personen stimmen die Proportionen,
für die beiden Empfangsräume wirken die Decken zu niedrig,
die Holzvertäfelung wurde aus dem TIMES-Haus herausgebrochen,
hinterm Konferenztisch ein Ölporträt Friedrichs des
Großen. Als Rauchtisch dient eine preußische Trommel
mit anmontiertem Schlegel, die Aschenbecher sind mit Kettchen
gesichert. "Es wird viel gestohlen", erklärt der
Mann. "Beim letzten Empfang des BUNDESVERBANDES DER DEUTSCHEN
INDUSTRIE verschwanden sechs antike Aschenbecher und eine Kleinplastik
von Barlach." Wir schauen aus einem Fenster Richtung Alexanderplatz,
die Sonne erzeugt auf der Kugel des Fernsehturms ein Lichtkreuz,
der Redakteur läßt sich über die magere Rushhour
der TRABBIS und WARTBURGS aus und reißt einen Witz, die
Tür zu den Schlafräumen öffnet er nicht, sagt nur:
"Einfach, sehr einfach."
1913
(...) Bei Einladungen zum Hausball war ich nicht gezwungen, wie
gewöhnlich die Gäste zu begrüßen, dabei hätte
es mir gefallen, die Paare für wenige Sekunden zu mustern.
"Bevor sie kommen", rief die Mutter, "mußt
du noch zu Vater und Guten Nacht sagen". Er saß in
seinem Arbeitszimmer, mit Aushorchungen beschäftigt, umringt
von Gesetzen, Berichten, Umfragen, diesmal aber in feinerer Rüstung
mit einer weißen Nelke im Knopfloch als Ball-Signal. Während
die Autos ihre Lichtkegel auf unsere Front warfen, wunderte ich
mich, daß der Vater vor den wie mit Schlamm gefüllten
Fenstern zurückwich, zurück schwankte, so etwa wie wir,
des Schwindelgefühls wegen, beim Einfahren der U-Bahn reflexartig
einen Schritt nach hinten treten. Ich schlenderte in mein Zimmer.
Es ging auf 19 Uhr zu, und der Gästestrom wurde dichter.
Schon flitzten die Mädchen mit den Hors-d'oeuvre-Platten
durch den Flur. An mein Ohr drangen zufallsweise und in größeren
Abständen Geräusche, zwischen denen keine Beziehung
bestand � hier ein Tuscheln beim Glätten von Geschenkpapier,
dort die Stimme einer älteren Dame, die ich vor Jahren schon
ein- oder zweimal durch die Wohnung "Puppchen" hatte
rufen hören. Wenn ich später auf Zehenspitzen nach draußen
schlich und einen Spalt der Tür zum Salon aufmachte, bewegten
sich blonde Frisuren, wie zu Sorbet gefroren, neben dem Schwarz-Weiß
der Herren � vollkommen, ohne Fehler, mit dem Prunk alter, zu
nichts mehr verpflichtender Formen. Lüster ließen eine
Ordensschnalle hervortreten, Schmuck auf Bögen nackter Haut
oder die zweifarbigen Uniformen der Kavallerieleutnants, die lange
in Blöcken beieinander gestanden waren, bis sie sich auseinanderschoben,
um vor den Damen ihre Verbeugungen zu machen. Es hatte beinahe
den Anschein, als wäre der Tanz eine andere Form von Wahnsinn,
und als würden die Offiziere hinaus auf das Parkett getrieben,
um sich von einem unerträglichen seelischen Druck zu befreien,
der sich ständig von neuem einstellte. Während Blumenbouquets
an den Wänden wie auseinandergewehte Seifenflocken schäumten,
hielt das Schleifen der Kleider bis eine Stunde nach Mitternacht
an, dann zogen sich die Geräusche über das Treppenhaus
in die Samtfauteuils der Automobile zurück, schließlich
meldeten sich aus dem Hof zwei Eulen, sie saßen auf der
Birke, und für Augenblicke glich ihr Schnauben dem Ächzen
des Großvaters, der am Rauchtisch mit offenem Mund vor einer
Karaffe Rotwein eingeschlafen war. Vom Balkon aus konnte man beobachten,
wie sich die Fahrzeuge noch eine Weile unter den Bäumen des
gegenüberliegenden Ufers durch stumpf gewordene Lichterschlangen
bemerkbar machten, dann verschwanden auch sie. Zum ersten Mal
kam mir zum Bewußtsein, daß wir in uns selbst eingekerkert
sind, nicht ohne Verlangen, dieses Vakuum aufzufüllen. Unten
vorm Haus lag zwischen den Ritzen der Pflastersteine schmutziges
Eis. Der Himmel über dem Tiergarten atmete arktisch klar,
der Mond nahm zu, und selbst die ewigen Sterne hatten keine Scheu,
ihre Position zu verändern. Ich wärmte meine durchfrorenen
Finger, während neben der Straßenlampe ein Kastenwagen
mit Verdeck stand wie der Trümmerrest einer Armee, die nach
dem Ende der Ballnacht weitergezogen war.
|