Am Erker 88

Marcus Jensen: Vestalin

 
Rezensionen

Marcus Jensen: Vestalin
 

Der postmoderne Prometheus
Gerrit Althüser

Die weltberühmte, als Sportidol und Sexsymbol verehrte Beachvolleyballerin Enya Ros prallt während des WM-Finales in Brasilien gegen einen Netzpfosten und erleidet den Hirntod. Da sie ihren Körper der Medizin vermacht hat – "Nach meinem Tod dürfen die Wissenschaftler mit mir machen, was sie wollen, vorbehaltlos" hatte sie kokett in einem Interview erklärt –, bietet sich eine außerordentliche Gelegenheit für den Neurochirurgen Dr. Jürgen Dehm. Seine Firma NeuroQuo ist in der Lage, ein Gehirn in einen anderen Menschen zu verpflanzen, und nutzt dafür den Körper des jungen Stars – und das Gehirn von Dehm. Marcus Jensens Roman Vestalin folgt der Perspektive von Kat, die siebzehn Jahre zuvor ein Verhältnis mit dem deutlich älteren Mediziner hatte und nun als freie Ermittlerin für eine Anwaltskanzlei in das Geschehen hineingezogen wird, Beziehung zu Dehms Sohn Niklas inklusive. Dieser führt nun das Institut, präsentiert die Wiederauferstandene der Öffentlichkeit und sorgt dafür, dass alles im Sinne seines Vaters abläuft, während sich ein gewaltiger Kult um Enya bildet. Diese zieht als eine Art Vestalin der Wissenschaft in einen gläsernen, von Pilgermassen umringten Tempel. Neben diesen Eiferern gibt es Kritiker wie Enyas Mutter oder ihre Volleyballpartnerin Alina, für die die Operation gegen die Religion ist. Auch die Presse, Ethiker und Juristen stürzen sich auf den Fall. Wie auch immer sie sich dazu verhalten, allen ist klar, dass eine neue Zeit angebrochen ist.
Jensen strickt seine Geschichte also um den Topos der Hirntransplantation, der aus diversen Horrorfilmen, vor allem natürlich den Frankensteinfilmen, und vereinzelten Komödien bekannt ist und zuletzt in Giorgos Lanthimos‘ Poor Things (2023) im Zentrum stand. Wie Poor Things, aber auf andere Weise, erweitert Vestalin das Motiv um eine Gender-Komponente und spielt auf aktuelle Diskurse zum Thema an. Männlichem und Weiblichem, die sich im neuen Mischwesen aus Dehm und Enya verbinden, entsprechen die Gegensätze von Geist und Körper, Subjekt und Objekt, Innen und Außen. Es sind die klassischen Klischees, die abgerufen, aber infrage gestellt und gebrochen werden, auch Dehm selbst (bzw. sein Gehirn) muss das im Laufe der Handlung erfahren. Man kann den Roman jedoch auch ohne Bezug zur Genderthematik als Gedankenexperiment zu einem möglichen medizinischen Fortschritt lesen. Viele Implikationen werden nur angerissen, sind nicht bis ins Letzte ausbuchstabiert, stimmen aber gerade dadurch nachdenklich.
Wie seine Figuren operiert auch der Roman selbst gekonnt mit Versatzstücken, vermengt Passagen scheinbar trivialer Genres wie Horror, Sci-Fi oder erotische Literatur mit mythologischen Elementen, philosophischen Überlegungen und Gesellschaftssatire und nutzt Anspielungen von Thomas Mann bis Procol Harum motivisch. Die expliziten Sexszenen liegen durch das Gender-Thema nahe, tragen aber auch viel zur Wirkung des Buchs bei; noch stärker gelingt es, ein Gefühl der Unheimlichkeit auf die Lesenden zu übertragen. Insgesamt ist der Roman nicht nur anregend, sondern gut geschrieben, motivreich und sogar spannend. Als einziger größerer Kritikpunkt ist anzumerken, dass man sich mehr Informationen über Motive und Gedanken der Figuren gewünscht hätte. Vor allem betrifft das Kat, aber auch Dehm, von dem man gern wüsste, wie er sich im neuen Körper fühlt. Das mag hier mit Absicht unerwähnt geblieben sein, beim Lesen fehlt es dennoch.

 

Marcus Jensen: Vestalin. Roman. 236 Seiten. kul-ja! publishing. Erfurt 2024. € 17,00.