Am Erker 85

Tim Lienhard: Paradiesfrüchte

 
Rezensionen

Tim Lienhard: Paradiesfrüchte
 

Das Irgend
Ute Cohen

Das Paradies ist ein Sehnsuchtsort für romantische Seelen, ein Utopia für schwärmerische Freigeister, womöglich auch ein Elysium für verzückte Genießer. Das Paradies regt die Sinne ebenso an wie die Vernunft. Die einen versuchen, der schnöden Wirklichkeit zu entfliehen hinein in künstliche Paradiese, die anderen glauben an die menschliche Schaffenskraft, an die Möglichkeit eines irdischen Paradieses, und dann gibt es diese flirrenden Wesen, die den Kopf in den Wolken haben und doch fest in der Wirklichkeit verankert sind.
Tim Lienhard, Fernsehautor, Reporter, Filmregisseur und leidenschaftlicher Tagebuchschreiber, ist einer dieser Bewohner eines Zwischenreiches, in dem die Düsternis dem Glanz der Möglichkeiten unterliegt. In seinem Buch Paradiesfrüchte sammelt er Auszüge, die als Notizen, Prosa-Miniaturen und Anekdoten daherkommen und doch einer freieren, genrelosen Welt entstammen. Trotz aller Beobachtungsgenauigkeit und bissiger Sprachlust bewegt sich Lienhard vor allem andernorts, in diesem IRGEND, das er ersehnt und dem Leser immer wieder in seiner phantasmagorischen Qualität aufscheinen lässt. Lienhard verweigert sich dem überstrapazierten Begriff der "Identität", plädiert stattdessen für eine Unbestimmtheit, für das Vage: IRGEND heißt sein Mensch im Zwischenraum, der Ort auch, an dem er sich bewegen kann, "nicht bloß, weil das Unbestimmte, Nicht-Festgelegte und Offene darin angelegt sind, sondern auch, weil es die Haltung des Abwartens versinnbildlicht".
Das Unbestimmte lässt er auch für sich gelten, für Lienhard, den Autor, der auf der Bühne Dragqueen ist und doch Mann bleibt. Dieses Nebeneinander und Miteinander ist dann doch mehr, als man von einem irdischen Paradies zu erhoffen vermag: Zwistigkeiten und Spannungen aufgehoben zu wissen in einer versöhnlichen, lustvollen Feier der inneren Vielfalt, gibt einen Vorgeschmack aufs Paradies. Ein Paradies, das wir in jedem kleinen Prosabonbon verkosten dürfen. Dass diese eigensinnige Degustation den einen oder die andere irritieren mag, ist umso reizvoller. Geschmacksknospen zu öffnen, ist ein ebenso delikates Unterfangen, wie die Sinne zu schärfen für das Andere, das Dazwischen, das IRGEND.
Tim Lienhards Tagebucheintrag vom 9. September 2010 könnte man sich hinter die Ohren schreiben, übers Bett hängen, unter die Haut stechen:
"Es soll niemals Tage geben, an denen ich mich frage: Was mache ich hier?
Ich will immer Sorge tragen für den richtigen Ort, und es soll keine falschen Orte geben.
Vorausgesetzt, dass ich immer in dieser Freiheit leben darf, in der zu leben ich gewohnt bin. Aus der heraus ich jeden Ort zu meinem Ort machen kann."
Lesen, leben, auf in paradiesische Gefilde!

 

Tim Lienhard: Paradiesfrüchte. 100 Texte aus meinen 500 Tagebüchern. 160 Seiten. Selbstverlag. Berlin 2023. € 24,00. Bezug über timlienhard19@gmail.com.