Von prosaischer Dichtung und verdichteter Prosa
Andreas Verstappen
Es ist ein kleiner Sonnenstrahl in des Lebens Düsternis, wenn junge Menschen schöne Dinge machen, die man nicht unbedingt erwartet hätte. Zum Beispiel komische Gedichte schreiben. Meisterhafte komische Lyrik hatte ihre Heimstatt am Ende des letzten Jahrtausends zuvorderst in der Neuen Frankfurter Schule und deren Umfeld. Auch ihre zweite Generation hatte genug Personal und Potenzial ausgebildet, um diese Quellen nicht versiegen zu lassen - nennen wir hier stellvertretend Thomas Gsella. Aber würde der Funke der komischen Reimerei auch auf die dritte Generation überspringen? Seit heute wissen wir: Er ist gesprungen. Nicht nur, dass der mit dreißig Jahren herangereifte, aber noch durchaus frische Moritz Hürtgen sich seinen Bachelor of Arts mit einem Gernhardt-Gsella-Vergleich erkämpfte: In seinem ersten Gedichtband reüssiert er mit formvollendeten Werken, die sich der Gesellschaft der Altvorderen von Heine über Ringelnatz bis F. W. Bernstein demütig, aber doch innovativ hinzugesellen. Nur hätte er dem Buch nicht den Titel Angst vor Lyrik geben sollen, sondern dessen Verneinung, denn es ist derart gut geeignet, die Furcht vor dieser literarischen Gattung zu mildern, dass man es eigentlich auf Krankenschein beziehen können sollte.
*
Klassische Formen und die strengen deutschen Reimgesetze waren dem im vergangenen Jahr verstorbenen Wiglaf Droste von Herzen egal. Dabei erschien er immer wie die Verkörperung des Camus'schen Menschen in der Revolte, der erst mal alle oktroyierten Regularien verneint, um sich am heimischen Herd und im heimischen Bett neue zu schaffen, die dann allgemeines Gesetz werden zu können zumindest vorgeben. Insofern hätte der unter Verwendung eines Gemäldes von Michael Sowa gestaltete Schutzumschlag, der ein in freier Natur postiertes Bett mit gedecktem Tisch zeigt, nicht besser gewählt sein können. Droste liebte und hasste mit Inbrunst und ostwestfälischer Herbheit - die Liebe traf etwa die Frauen, die Vögel, Peter Hacks, Essen und andere körperliche Wohltaten, deren Lobpreis in Drostes Gedichten breiten Raum einnimmt und bisweilen an die diätetisch-literarischen Pinselstriche eines Peter Altenberg erinnern. Mit dem hundert Jahre früher gestorbenen Wiener hatte Droste auch sonst einiges gemein, etwa die Fähigkeit, es sich mit erklärten Freunden und Förderern gern und häufig zu verderben, oder das frühe, dem Lebenswandel geschuldete Ende. Authentisch und bet(t)roffen, mit nie verleugneter Neigung zu abseitigen Wort- und Gedankenspielen, präsentiert sich dieses empfehlenswerte Buch.
*
Romane zu lesen, das ist, als hole man sich ein Haustier ins Heim. So oder so sieht man sich unversehens mit ungeheuren Ansprüchen konfrontiert. Romane wie Tiere verlangen viel Zeit, Aufmerksamkeit, Konzentration, Opferbereitschaft - alles Dinge, die man in der Regel nicht im Übermaß hat. Bloß um sich in ein Leben einzuleben, das mit dem eigenen nur angeblich zusammenhängt. Warum soll man sich so was antun? Aus Langeweile? Aus fehlgeleiteter Empathie? Keine Ahnung. Wer wegen solcher Fragen ins Grübeln gerät und beschließt, sich nie wieder auf einen Roman einzulassen, muss deshalb nicht ganz auf Literatur verzichten. Die Rettung heißt Kurzprosa. Wenn sie gut gemacht ist, bringt sie bei minimalem Einsatz ein hohes Maß an Erkenntnis, Lebensklugheit und vielleicht sogar Weisheit. Wo aber finde ich solch ein Wundermittel? In den 237 Prosaminiaturen von Otto Jägersbergs neuem Buch Liebe auf den ersten Blick! Es hat sich für uns gelohnt, dass der 1942 in Hiltrup Geborene ein stattliches Alter erreicht und gelernt hat, im Kleinen das Große, im Nebensächlichen das Wesentliche zu erkennen. Und nebenbei gibt es noch geografische und lukullische Ratschläge für eine Reise in seine Wahlheimat Südbaden.
*
Natürlich ist der "Jahresroman" Vielleicht Hunsrück von Jürgen Roth kein Roman, sondern eine Art Tagebuch mit Aufzeichnungen von August 2016 bis August 2017, nur ohne Datumsnachweise. Bis dato kannte man Roth als großen Experten in Sachen Bier (Das Bier-Lexikon) und Fußball, vielleicht noch in Verbindung mit Kiebitz und Kapitalismuskritik. Spätestens jetzt weiß man: Der Mann interessiert sich für alles, darunter ist sehr viel von dem, was mich selbst auch interessiert, aber im Gegensatz etwa zu mir hat er zu allem eine Meinung und eine Anschauung, eine Vorliebe oder einen Hass. Das muss nicht immer begründet sein, Hauptsache, es ist gut formuliert und mit passenden Zitaten angereichert. Am engagiertesten bricht sich immer der Ornithologe in ihm Bahn: Kaum ein Tag vergeht, ohne dass der Autor berichtet, welche gefiederten Freunde von Amsel bis Rotkehlchen ihm wieder begegnet sind. Das mag nach Vogelbeinzählerei aussehen, kann aber sicher später einmal als Beleg für den Schwund der Artenvielfalt herangezogen werden.
*
"Ich hatte sie alle" - dieses Statement scheint für den sexuellen Bereich reserviert zu sein, in Tagen wie diesen vielleicht noch für überstandene Seuchen. Für Hans Zippert dagegen gilt das Wort "besteigen" zuvorderst in seiner wohl ursprünglichen Bedeutung, meint also das Erklimmen einer großen Anhöhe. Zippert ist bekannt für schier übermenschliche Leistungen, zum Beispiel dafür, seit dem Ende des letzten Jahrtausends ohne Unterbrechung eine tägliche satirische Kolumne zu verfassen. Nun hat er als erster "Mensch und Bielefelder" die höchsten Erhebungen aller sechzehn Bundesländer erklommen und darüber ein Buch geschrieben. Das ist nicht nur sehr komisch und historisch wertvoll (mal sehen, wie die dort beschriebenen blühenden Gastronomie-Landschaften nach Corona aussehen werden), sondern nichts weniger als das Buch der Stunde, da man sich beim Verreisen statt mit Mount Everest und Ballermann in diesem Jahr wohl mit Zugspitze und Großem Müggelberg (114,7m / Berlin-Köpenick) begnügen muss. |