Gesang von der römischen Freiheit
Alfons Huckebrink
Wohl kein anderer europäischer Ort erscheint als Fluchtpunkt im Nachhinein geeigneter als Paris, um jenem Diskurs in der Enge - so der Titel einer 1970 erschienenen Anthologie mit Schweizer Autoren - zu entrinnen. Paul Nizon, der Citoyen suisse, in der Welthauptstadt der Kunst. Das Ankommen, das Eintauchen in die Metropole, die schmerzliche Neufindung als Künstler haben ihren stimmigen Ausdruck gefunden in dem großartigen Roman Das Jahr der Liebe (1981), der inzwischen zur Schullektüre zählt. Neulich befragt im DLF, warum er eigentlich noch keinen französischen Pass besitze, entgegnete er, einen Pariser Pass hätte er gerne beantragt. Sein Beitrag zur Fortschreibung des Mythos Paris ist ebenso unverkennbar wie unverzichtbar. Diesen bezeugen nicht nur Romane wie Das Fell der Forelle (2005), sondern auch zahllose Notate zur Pariser Lebensart in den seit 2002 erschienenen vier Journalbänden, aus denen mittlerweile eine Parisiana (2015) betitelte Zusammenstellung extrahiert wurde.
Bei alldem wird leicht übersehen, dass Rom die erste Metropole war, die Nizon literarisch inspiriert hat. Sein Canto erscheint 1963 bei Suhrkamp und ist kommerziell ein ziemliches Desaster. Auch die Kritik kann ihm wenig abgewinnen. Bittere Enttäuschung beim Autor, der davon träumt, vom Schreiben leben zu können, sich mit einem privat finanzierten Stipendium ein Jahr römische Freiheit erkauft hat und mit leeren Händen nach Bern zurückgekehrt ist. Dort akzeptiert er eine Festanstellung als Kunstkritiker der NZZ, ringt sich den Canto ab. "Unseld hatte mir einen Welterfolg versprochen", bekennt er 2008 im Interview mit dieser Zeitschrift (siehe Am Erker Nr. 56). Danach bleibt er lange stumm. Erst 1971 erscheint der Prosaband Im Hause enden die Geschichten und 1975 die autobiografisch gefärbte Geschichte Stolz, die von einem jungen Wissenschaftler erzählt, der sich über seine Studien zu Vincent van Gogh im winterlichen Spessart vergräbt und dort erfriert. Vor einem ähnlich traurigen Schicksal rettet den Autor 1977 die Übersiedlung in die französische Hauptstadt, wo er noch heute unweit der Métro-Station Raspail auf dem Montparnasse lebt.
"Ich. Der Hurenhirt. Der Journalist. Der Vergesser." Dieser Canto ist trotz des ökonomischen Misserfolgs ein großer Wurf, mit dem Nizon seine künstlerische Ambition bis weit in die Zukunft hinein veranschlagt. "Vor allem gibt es kein vergleichbares Buch in der deutschsprachigen Literatur", schätzt er selbst nicht gerade unbescheiden ein, und wer will ihm darin widersprechen? Die Figur des Vaters, mit dessen Anrufung dieser Antiroman anhebt, das sich verlaufende Ich: "Den wir als Ich leben ließen, den lassen wir laufen, uns zu suchen. Zusammenzusuchen aus den Plätzen für Lebensminuten, den Minutenplätzchen in Rom." Im Grunde ein Todes-'Gesang'; das Ich als Probemensch im Kierkegaard'schen Sinne, den das Leben braucht, um sich selber vorzufühlen; rätselhaft und wohl bis heute unverstanden. Und vielleicht deswegen ein Kultbuch, das "seiner Zeit um Jahrzehnte voraus" war, wie Le Monde befindet. Nizons musikalisch grundierter Stil, diese suggestive Sprachliturgie, klingt hier erstmals an, seine "wegweisende Unverwechselbarkeit" (Heinz F. Schafroth) nimmt Kontur an. Seine Absage an die Narration wird mit dieser Arbeit formuliert als vages Vorsprechen von reiner Literatur, die "nicht etwa eine Mitteilungsmaschine ist, sondern ein Kunstwerk, das mit der Gabe der Unvergänglichkeit ausgestattet ist. Mit der Dichte an sich, die Überlebensdichte sein soll." Das eigentlich Erstaunliche daran ist, dass Nizon dieses Konzept eines Künstlers und wortverzückten Flaneurs unbeirrt über die Jahrtausendwende hinaus behauptet und in makelloser Konsequenz vervollkommnet. Zu Paul Nizons 90. Geburtstag am 19. Dezember 2019 hat Suhrkamp den Canto in der schönen, von Willy Fleckhaus gestalteten Leinenausgabe neu aufgelegt. Zum Wiederlesen oder lustvollen Entdecken. |