100 Jahre Münchner Räterepubliken
Andreas Heckmann
Dass das ungemein charmante Wienerlied "Ich weiß auf der Wieden ein kleines Hotel" von Ralph Benatzky (1915), dem Adorno 1929 eine Schlageranalyse widmete, der Gassenhauer der Münchner Revolutionszeit war und von allen überall gesungen wurde, überliefert Ben Hecht in seiner freilich notorisch unzuverlässigen Berichterstattung über die Räterepubliken, die der Korrespondent des Chicago Daily Journal nach längerem Aufenthalt in der Reichshauptstadt im April 1919 erlebte. Dieses Lied erklang auch in "Dreieinhalb Wochen im Münchner Frühling", einer "Reise in die Zeit der Münchner Räterepubliken als sichtbares Hörspiel mit Livemusik und Videoprojektionen", einer kleinen, erfrischenden Produktion des Kollektiv Herzfeld im Theater im Fraunhofer, die ein Highlight in diesem Jubiläumsjahr war. Dass Hechts Beobachtung stimmt, man möchte es sich innig wünschen und kann es doch kaum glauben, wenn man auf das blutige Ende der Münchner Revolutionszeit schaut.
Wer sich mit der Revolution in Bayern 1918/19 beschäftigt, sieht sich unterschiedlichsten Deutungen gegenüber: Den siegreichen reaktionären Kräften galt sie als Schreckbild einer jüdisch-bolschewistischen Herrschaft landfremder Elemente, und ihr Backlash ließ München zur "Hauptstadt der Bewegung" werden. Die Linken wiederum streiten untereinander, wer Schuld am Scheitern der Revolution in Deutschland und Bayern trägt, und die Abgründe zwischen SPD, USPD und KPD, die Zersplitterung der Arbeiterbewegung, das Paktieren der SPD mit den alten Eliten, wie Sebastian Haffner es 1969 in Die verratene Revolution - Deutschland 1918/19 beschrieben hat, werden stets neu ausgelotet. Man mochte darüber vielleicht nicht revolutionsmüde, aber müde der vielen Deutungen großer Hoffnungen werden, die durchaus kläglich endeten.
Ein halbes Jahr lang nun wurde in München intensiv der Revolution gedacht, die am 7. November 1918 mit der Proklamation des Freistaats Bayern begann und nach einem halben Jahr am 2. Mai 1919 mit der blutigen Zerschlagung des letzten Widerstands in München-Giesing durch Freikorps - gerufen vom sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Hoffmann, dessen Kabinett in Bamberg amtierte - in weißgardistischem Terror endete. Das Jubiläum hat einige Bücher gezeitigt, die sogar für deutungsmüde Revolutionsromantiker spannende Lektüre bereithalten.
Zu nennen ist zunächst der Katalog zur Ausstellung Dichtung ist Revolution. Kurt Eisner, Gustav Landauer, Erich Mühsam, Ernst Toller in der Monacensia, dem Münchner Literaturarchiv. Zu den wirkmächtigen Legenden, die schon während der bayerischen Revolution und zumal nach deren Niederschlagung von rechts in Umlauf gesetzt wurden, gehört die Diffamierung ihrer Anführer als weltfremde Kaffeehausliteraten. Kuratorin Laura Mokrohs zeigt anhand ausgewählter Beispiele, wie wenig dies auf den ersten bayerischen Ministerpräsidenten, langjährigen SPD-, zuletzt USPD-Politiker und ehemaligen Vorwärts-Redakteur Kurt Eisner oder auf den Philosophen und sozialistischen Anarchisten Gustav Landauer zutrifft und dass auch Erich Mühsam - am ehesten der sinnenfreudigen Boheme zuzurechnen - seriöse politische Arbeit leistete. Das politische Wirken dieser Schriftsteller wird im Katalog mit ihrem Werk verknüpft, wobei Mühsam und Toller gewiss stärkere literarische Begabungen waren als Landauer und Eisner.
Sechs Tage im April. Erich Mühsams Räterepublik ist trotz des irreführenden Untertitels eine mitreißende Lektüre. Markus Liske - seit zwanzig Jahren mit Manja Präkels in Berlin in Sachen Mühsam aktiv, nicht zuletzt mit der Band "Der Singende Tresen", die viele Gedichte von Mühsam vertonte - bringt uns aus intimer Kenntnis seines Werks Mühsam als Mensch, Schriftsteller, Politiker nahe und erzählt darüber hinaus die Geschichte seiner Zeit und ihrer Kämpfe. Dabei kommt überwiegend Mühsam zu Wort, während Liske sich als erklärter Sympathisant seines Autors nur in Zwischenmoderationen einschaltet. Aha, mag mancher einwenden, wir vernehmen also Mühsams Sicht der Dinge? Was aber hat uns ein schrulliger Anarchist mit Hang zum Lumpenproletariat schon zu sagen?
Wer so fragt, ist den Legenden aufgesessen, die Parteikommunisten und Reaktionäre gleichermaßen über ihn in Umlauf setzten. Der Mühsam, den Liske von den Toten auferweckt, ist ein Parteigänger der Freiheit im umfassenden Sinn. Diese Freiheit indes ist nach Mühsams Überzeugung nur ohne Staat und Parteien erreichbar und lässt sich allein von unten nach oben durchsetzen. Daher seine Ablehnung jeder Obrigkeit, jedes Transmissionsriemens, ob er nun Partei oder Gewerkschaft heiße, daher seine Begeisterung für ein Rätesystem, bei dem die Willensbildung nicht an auf vier Jahre gewählte Abgeordnete von Parteien delegiert wird. Daher seine (mit Landauer geteilte) Überzeugung, man müsse den Sozialismus vor dem Marxismus retten. Diese Haltung brachte Mühsam in Widerspruch zur staatsgläubigen SPD und zur parteigläubigen KPD und ließ ihn auch die "Wählerei" in einer repräsentativen Demokratie und gewerkschaftliche Behäbigkeiten ablehnen. Seine Sympathien und Hoffnungen galten vielmehr den Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräten, die sich zunächst in den Januarstreiks 1918, dann in den ersten Revolutionstagen in Kiel, Wilhelmshaven, Bremen, Berlin, München bildeten und die für ihn viel zu rasch von den auf Machterhalt bzw. Machtbeteiligung spitzenden Eliten von Ludendorff und Hindenburg bis zu Scheidemann und Ebert neutralisiert wurden.
Liskes Leistung als Herausgeber des Mühsam-Readers besteht darin, den polemischen Analytiker und analytischen Polemiker Mühsam, der stets mit Herzblut schrieb, ob er nun schimpfte oder lobpries, auf eine Weise zu Wort kommen zu lassen, die nicht nur die Schwächen aller Parteien und der parlamentarischen Demokratie schonungslos aufdeckt, sondern auch das eigene Versagen als Revolutionär in den heißen Monaten von November 1918 bis April 1919 thematisiert. Mühsam seziert nicht nur das Scheitern eines großen Traums, er analysiert auch die Motive aller Akteure, beschreibt mit Verve deren Interessen und blinde Flecken. Und er charakterisiert die erste Münchner Räterepublik vom 7.-13. April als zugleich verspätete und überhastete Flucht nach vorn angesichts einer immer bedrohlicheren politischen Lage, für die die Regierung im verhassten Berlin (zumal Gustav Noske) im Zusammenwirken mit der SPD-Regierung Hoffmann in Bamberg verantwortlich war. Von der KPD nicht mitgetragen, von der Sozialdemokratie nur zum Schein unterstützt, hat diese Republik in ihren sechs Tagen kaum etwas vermocht. Obstruktion und Durcheinander überall. Dann wurde Mühsam - wohl zu seinem Glück - am 13. April von Putschisten verhaftet und im Zuchthaus Ebrach bei Bamberg festgesetzt, war also an der nach der Niederschlagung des Putsches kommunistisch geführten zweiten Räterepublik (13. April bis 2. Mai) nicht mehr beteiligt und hat ihr blutiges Ende, anders als etwa Gustav Landauer, überlebt.
Mühsam als Sozialutopist, der nicht so sehr philosophierte, seine Ziele eher durch seine Lebensführung zu erreichen suchte, eine Lebensführung, zu der neben dem Genuss viel Agitation und Scharfblick gehörte: Markus Liske bringt seinen Lesern und Leserinnen einen Mann nahe, der als politischer Romantiker eigener Art neben großen Autoren der literarischen Frühromantik bestehen kann, als Suchender und Libertin den Vergleich mit den Autoren der Beat Generation und deren Werken nicht zu scheuen braucht und uns als unbestechlicher Kritiker seiner selbst und seiner Zeit viel präsenter sein sollte. Liskes Sechs Tage im April sind als Buch bei Verbrecher und als Hörbuch bei speak low erschienen, wobei die Hörspielfassung dem Rhetor Mühsam gerechter wird und Manja Präkels ihre wunderbare Stimme Zenzl Mühsam an einigen der berührendsten Stellen der CD leiht. Ob aber die vereinzelten Zwischenmusiken des Singenden Tresen hätten sein müssen? Der Rezensent bezweifelt es leise, empfiehlt aber gern des Tresens schöne CD Mühsamblues, 2014 bei Setalight erschienen.
Dass zumal in München viele führende Revolutionäre Juden waren (in Berlin dagegen nur Rosa Luxemburg), ist nicht zu leugnen, aber was folgt schon daraus? Michael Brenner hat gezeigt, dass von einer "jüdischen Revolution" schon deshalb nicht die Rede sein kann, weil die Protagonisten oft uneins waren, einander misstrauten, sich nicht selten sogar spinnefeind waren - man denke an Mühsams massive Vorbehalte Eisner gegenüber oder an Eugen Levinés Weigerung, mit den Protagonisten der ersten Räterepublik zusammenzuarbeiten. Überdies war die jüdische Bevölkerung Münchens weit überwiegend antirevolutionär gesinnt und hat sich vielfach vom aus ihrer Sicht verderblichen revolutionären Treiben distanziert.
Im Geiste Ben Hechts haben sich die jungen Münchner Autoren Tobias Roth (*1985) und Daniel Bayerstorfer (*1989) zu einem imaginären Rundgang durch das räterevolutionäre München aufgemacht und sind dabei immer wieder in den großen Bierkellern und Festsälen der Stadt gelandet, wo diskutiert und palavert wurde und der "Russ" erfunden worden sein soll, die Mass Weißbier, die zur Hälfte aus Zitronenlimonade besteht, damit die Revolutionäre ihre Wachsamkeit nicht allzu rasch gegen einen Vollrausch tauschen. "München irrlichterte", beginnt das wortgewaltige Epyllion (ein kurzes Epos also) und fährt fort: "Über den festlichen Barrikaden und weißen Säulentempeln, / den antikisierenden Bibliotheken und Barockwirtshäusern, / den entvölkerten Palästen und Gartenanlagen der Residenz / spannt sich friedlich ein Banner von roter Seide. / ... / Darüber wie heute der obergärige Himmel / ... / In balancierten Krügen kühles Bier, dessen / Schaum die Oberlippen einschneit". Die Hoffnungen der bayerischen Revolution zwar wurden in Blut ertränkt, Bayern verkam zur "Ordnungszelle", München wurde zum Biotop von Hitlers NSDAP. Dennoch möge gelten, was Jan Kuhlbrodt in seiner Vorbemerkung fast beschwörerisch schreibt: "Es muss über weite Strecken ein fröhlicher Aufstand gewesen sein, ein Aufstand, der über verschiedene Phasen seines Verlaufs eine befreite Gesellschaft nicht nur anstrebte und das schöne Leben auf irgendein Morgen verschob, sondern ganz im Gegenteil die Freiheit jetzt, jetzt die Feier des Daseins verlangte."
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Michael Brenner: Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München. 400 Seiten. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag. Berlin 2019. € 28,00.
Sebastian Haffner: Die deutsche Revolution 1918/19. 256 Seiten. Neuausgabe. Rowohlt. Reinbek 2018. € 15,00.
Ben Hecht: Revolution im Wasserglas. Geschichten aus Deutschland 1919. Aus dem Englischen von Dieter H. Stündel und Helga Herborth. 112 Seiten. Berenberg. Berlin 2006. € 19,00.
Markus Liske: Sechs Tage im April. Erich Mühsams Räterepublik. 288 Seiten. Verbrecher. Berlin 2019. € 19,00. - Auch als Hörbuch (mp3), gelesen von Robert Stadlober, bei speak low. 220 Minuten. € 18,00.
Laura Mokrohs: Dichtung ist Revolution. Kurt Eisner, Gustav Landauer, Erich Mühsam, Ernst Toller. Bilder, Dokumente, Kommentare. 128 Seiten. Pustet. Regensburg 2018. € 18,00.
Tobias Roth, Daniel Bayerstorfer: Die Erfindung des Rußn. Ein Epyllion zur Münchner Räterepublik. 72 Seiten. Aphaia. Berlin, München 2018. € 9,90.
Der Singende Tresen: Mühsamblues. CD mit dreizehn Vertonungen von Gedichten Erich Mühsams. Setalight 2014. € 14,00. |