Ich höre berührt
Rolf Birkholz
Da rutscht jemand in den Wüsten jenseits der Stadt von den Hochdünen "die Hand mit Bedacht auf dem Mund / hinunter in die Landschaft / beim Anblick nur." Das ist eine mögliche poetische Position: sich aus der Distanz in den Gegenstand fühlen und denken. Und "während ich heilige Worte suche, bis die Nachbarn die Köpfe schütteln" beschreibt poetisches Tun sowie eine vorstellbare Reaktion darauf. Wir wissen nicht, ob Julia Dathe diese Deutungen intendiert hat. Aber dass sie sich finden lassen, lohnt allein schon die Lektüre ihres Gedichtbandes Eins.
Die Gedichte der 1980 geborenen Leipzigerin eröffnen ein weites Tableau an Themen in oft wildem Wechsel, von Revolution in allen Schattierungen, von Liedern zur Gitarre bis zum Terror, von Einsatzgruppen und Einsatzkräften, von "Oberflächen tosender Gewalt" und Behutsamkeit unter Bedrohung: "Wir biegen flüsternd das Gras / sei leis Liebs!" Von Lagen, in denen als "Grundwerte die der Richterskala" gelten, bis zu Naturbetrachtungen.
"Schneit ein Kleid ein, kleiden schneit ein, Kleid schneiden, Kleid leiden. / Den Schnei der Kleider leiden, Kleiderschneider / schnei der, der Klei, beschnei der Klei ein Lied, bekleidert der Schrei ein Leid / bekleidert der Schnei ein Lieb auf den Leib." Bei solchen Versen mit reduziertem, variiertem Wortmaterial spricht Jan Kuhlbrodt im Nachwort von "Minimalpoetry". Er vergleicht den Band mit dem, was man in der Rockmusik "Konzeptalbum" nennt, erkennt musikalische Strukturen.
Der Leser, dem die drei Zyklen nicht gleich als Partituren eingängig sein sollten, kann sie - wie in solchen Fällen zu empfehlen - auch als Knobelbecherlyrik (nachdenken, würfeln, weitergehen) betrachten und auch dabei schöne, tragende Melodien entdecken. "Ich höre wie Schnee / den Boden berührt / ich höre ich höre ich höre wie schnee / ich höre den boden ich höre berührt". |