Ein Fleck, ein Heft, ein Gedicht
Rolf Birkholz
Ein schwarzer Fleck auf dem Küchentisch vor dem Kind führt dieses als erwachsene Frau zum "schwarzen Heft" von Henri Matisse. Natürlich umgekehrt, äußerlich. Das Gemälde ruft das innere Bild jener Situation hervor: "ich sitze stumm / im weißen Kleid / am schiefen Tisch herum / Kommunionkind / im Delirium". Und doch mag es auch der Fleck sein, der eben so zum Heft im Bild führt, dass es berührt. Denn vor diesem Werk, 1918 gemalt, wird sich das dichterische Ich in "Schwarzer Tisch Matisse" bewusst, dass in jenem Jahr der eigene Vater geboren wurde, der schon damals, am Festtag, am Küchentisch fehlte: "er starb bevor ich ihn je sah".
In solchen Bewegungen, die nur scheinbar Umwege sind, nähert sich Ria Endres in ihrem Gedichtband Augen auf Augen zu etwa auch ihrer Mutter. Ihrer erinnert sich die poetische Stimme einmal ebenfalls angesichts eines Gemäldes, geschaffen von Julian Beck 1945, da "war ich gerade / im Bauch meiner Mutter".
Hier, in "Julian Beck's Minimal Painting", bringt sie Beck, den von ihr verehrten Samuel Beckett und sich selbst zusammen, wundert sich, "was man mit Sprache alles machen kann / in dieser raffinierten Balance / von früher und jetzt".
Dabei zieht die Autorin ihren manchmal hastig abgehackt wirkenden Kurzversen in umso längeren Gedichten gern eine fast unmerkliche Reimstruktur ein, wissend: "das ist doch nur ein armer Reim / doch er kann sehr beruhigend sein". Aber auch überraschend, wenn sie "malen kann" mit "Paul Cezanne" verbindet.
Manches, wie "Ai Wei Wei im Reich der Mitte online", gerät vielleicht etwas plakativ, aber meistens gräbt Ria Endres tief. Unter Titeln wie "Neue Ewigkeit", "Hymne", "Litanei" hält sie weltliches Gericht. Auch im Langgedicht an ihren Wohnort ("Frankfurt pointillistisch") bezieht sie "in meiner Hirnschale" Position für eine "unsichtbare Proklamation / in meinem kleinen Theater / zerebral / ist nicht egal". |