Am Erker 68

Dincer Gücyeter: ein glas leben

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Elif Verlag

 
Rezensionen
Dincer Gücyeter: ein glas leben
 

Du sammelst Kraft aus gescheiterten Blicken
Michael Starcke

Die Gedichte Dincer Gücyeters, versammelt in seinem schmalen, wunderschön gestalteten Band ein glas leben, sprudeln nur so von Leben. Und zwar in allen Nuancen. Sinnlich sind sie, manchmal leicht, manchmal schwer, aber immer bis ins Körperliche nachvollziehbar, hin- und mitreißend, ursprünglich und von unglaublicher Intensität.
Dem Dichter, anders kann man ihn nicht nennen, gelingt in der Verknüpfung morgenländischer und abendländischer Dichtkunst ein Spagat "in unberührter Magie der Lebensdichtungen". So sind einzigartige und authentische Gedichte entstanden, deren Originalität und poetische Reife für sich sprechen. Ihr Ansatz das kindliche Sehen, besser noch, die Sicht eines Erwachsenen mit Kinderaugen. Und der Dichter, der Kind genug geblieben ist und Kind bleiben wird und will, kann unvoreingenommen das Schicksal erkennen und die Einsicht festhalten wie eine Notiz: "du sammelst Kraft aus gescheiterten Blicken".
Bunt ist die Welt, von der Gücyeter, der auch als Schauspieler und Regisseur arbeitet, erzählt. Ein staunendes, empfindsames Kind auf Brettern, die nicht notwendigerweise die Welt bedeuten, Leben, Tod und Poesie aber allemal. Bunt ist auch das Leben des Dichters: "ein mutterloser Vogel war ich in fremden Ländern/ eine Widmung an die Heimat blieb immer in meinen Liedern". Das Gewicht des Lebens, lautet seine Einsicht, "... hieß aber Liebe, die in uns schmerzt/ auf dem vom Leben befleckten Kragen". Der Dichter stellt sich den großen Fragen der Menschheit nach Vaterland, Mutterland, Heimat und Sprache wie einer für sich selbst formulierten Aufforderung: "stille die hungernden Augen meiner Kindheit".
Er zweifelt: "wer weiß, vielleicht sollte jeder vor seiner Geburt Angst haben". Er erkennt: "denn die Hoffnung stirbt nicht, ich frage mich, wer will was töten?" Und er fragt ungeniert: "wer will lachen, wer weinen?" Oder auch: "wofür ist ein Leben ohne Freiheit, ohne die erste Liebe brauchbar?"
Er erfährt Leben und Welt, Tag und Nacht, Liebe und Einsamkeit, dichtet: "in einem nicht angekommenen Brief suchst du das Glück". Oder: "die Melonenkerne streust du auf alle Ecken/ du hoffst, das Leben wird sich vermehren". Er lernt Verzweiflung ebenso kennen wie Lust: "du, die Hure meines Inneren." "Das verschwommene Schicksal all meiner Masken" ebenso wie die Sehnsucht: "gefesselt sehne ich mich danach, das Wesen eines Steins zu sein."
Er lebt, arbeitet, schreibt, liebt und hofft. Er ist einer, der, dem Leben zugewendet, Gedichte schreibt, von denen er sagen kann: "sei gewiss:/ auch die Gedichte werden für mich/ die Reife nicht versprechen können".
Er beschreibt "die Seiten eines kindischen Tagebuchs" "als unendlich gedachte Jugend". Dincer Gücyeter, Dichter, Kind, Erdenkind, himmlisches Wesen und künftiger Vater, schreibt: "mein nichtgeborenes Kind!/ ich taufe dich 'Weggefährte'" und "ich hoffe, Kind, dass ich bis zu deiner Ankunft ein Kind bleiben werde".
Zweifelsfrei ist er es geblieben und wird es weiterhin bleiben, eine große Stimme im Konzert der Lyrik, eine große und außergewöhnliche, der ein glas leben, sein Glas Leben, bis zur Neige auskostet und von der Liebe schreibt, als habe er sie miterfunden: "immer bäumt sich deine Stimme in mir auf wie eine keuchende Stute". Und last not least: "sieh mich nicht so hinreißend an/ lass mich die Welt tilgen/ und als fremder Mann/ dir dieses Gedicht widmen". Diesen Gedichten gehört eine Bühne bereitet, eine andere als die karger Stille, eine, die prall ist, voller Menschenkinder, unerschütterlich leise und laut, ein Wurzelnest LEBEN.

 

Dincer Gücyeter: ein glas leben. Gedichte. 72 Seiten. Elif. Nettetal 2012. € 7,95.