Unter Raben
Rolf Birkholz
Zum Schweben lädt Esther Kinskys Gedichtband Aufbruch nach Patagonien ein. Der lyrische Lotse phantasiert sich ein erfundenes Herz als Kompass, "der immer ins andere zeigt ins anderswo anderswann immer/ dem auge voraus immer/ die landschaft absuchend/ nach verlorenem immer/ sein eigener widerhall." Der aus einem Kapitel des Bandes resultierende Buchtitel suggeriert freilich einen gewissen Aktivismus, der die hier eher dominierende, gelassene Suche "nach verlorenem" (und "nach verlorenem immer") ein wenig überdeckt. Raben voran, beherrschen Vögel Esther Kinskys Verswelt. Immer wieder werden diese schwarzen, "die rauen vögel" ins Bild gebracht. Jemand greift "nach dem schnarren der raben/ und steckt es sich in den Mund", doch "ihr wisst/ nicht wie schwer/ die sprache der raben ist", heißt es ein andermal. Ganz nah kommt die Autorin diesen Zweibeinern der fliegenden Art, spricht ihnen einer Legende nach gar "wissen in herzensdingen" zu, sie spiegelt Menschliches in ihnen, aber sie vereinnahmt sie nicht, respektiert sie in ihrer Unnahbarkeit. Treffend differenziert die 1956 geborene Schriftstellerin und Übersetzerin, in deren Gedichten man auch die balkanischen Regionen ihres großen Landschaftsromans Banatsko (2011) glaubt da und dort aufscheinen zu sehen, dichterische und alltägliche oder ornithologische Sichtweise: "Ich höre/ raben ich weiß/ sie sitzen bewachen/ ein stück licht/ an dem wollen/ sie ihre schwärze erproben/ immer wieder immer/ dunkel/ hell dunkel andere/ meinen/ sie suchen nach/ nahrung." Bewegend, gemäldegleich die Szene, in der Kinder ("Die frommen kinder stehn um brot an es ist freitag") mit dem weißen Abendbrot aus der Bäckerei von Rabenschwärmen überflogen heim zu ihren Häusern fliegen ("engel"). Und ihr "Stilleben" zeigt, dass Esther Kinsky auch ohne Vögel mühelos Erdanziehungskraft und Federleichtigkeit zusammenbringt. "Etwas licht/ liegt auf den dingen/ etwas/ licht aus einem unbekannten tag". Einmal sieht sie "Fünf raben/ über meinem haus/ in diesem ungewissen licht/ zwischen stille und regen" in dem noch alles namenlos sei: "still geschenktes bild/ das dennoch heißen wird/ unterfünfraben." |