Zistrosen, Myrthe und Pecorino zum Verbrechen
Ralf Junkerjürgen
Welches literarische Schema ist in den vergangenen hundert Jahren so oft angewendet worden wie der Kriminalroman? Das Handlungs- und Figurenmuster scheint ein so wohliges Gefühl von Vertrautheit auszulösen, dass Abweichungen davon nicht wirklich gewünscht sind. Variation und Differenzierung wurden von den Autoren daher zunehmend auf die Inszenierung des Raumes verschoben, die zahlreiche Subformen kreiert hat – den Barcelona-Krimi eines Vázquez-Montalbán, den Münster-Krimi eines Jürgen Kehrer oder den Sizilien-Krimi von Andrea Camilleri. Diesem Prinzip folgt auch der italienische Psychotherapeut Bruno Morchio, wenn er seinen Privatdetektiv Bacci Pagano in den Gassen seiner Heimatstadt Genua ermitteln lässt, wo er mittlerweile zu einer lokalen Ikone geworden ist. Als Pagano 2004 mit seiner ockergelben Vespa in Kalter Wind in Genua startete, um italienischen Flair & Crime zu versprühen, fuhr er sich in die Herzen der Krimifans und erreichte bald auch das deutsche Publikum. Mittlerweile sind sieben Titel entstanden. Der vierte Band Der Tod verhandelt nicht ist kürzlich auf Deutsch erschienen und bildet zumindest räumlich eine Ausnahme, weil der Detektiv seine Hafenstadt verlässt und Nachforschungen auf Sardinien anstellt, wo es nach Zistrosen und Myrthe duftet. Die Insel mit ihrer Landschaft, ihrem Wein und ihrem Käse gerät schnell zum eigentlichen Dreh- und Angelpunkt des Romans, während der übliche Ermittlungsplot zur Nebensache absinkt. Pagano soll auf Sardinien einen jungen Mann aufspüren, der mit einem Raubüberfall in Verbindung steht. Den Detektiv interessiert dies nur wenig. Einquartiert bei einem Freund, den er während seiner Zeit im Gefängnis kennengelernt hat, denkt Pagano lieber über seine gescheiterte Ehe und das Verhältnis zu seiner Tochter nach, die er jetzt nach zehn Jahren wiedersieht. In dem scheinbar lethargischen "Gefühlsanalphabeten", der Pfeife raucht und sich weigert, Unterhosen zu tragen, schlummern allerdings auch, wie bereits sein Name andeutet, dionysische Kräfte, die sich immer wieder in sinnlichen Exzessen Bahn schlagen, bei denen Pagano gerne mal die Nerven verliert und wild in die Luft schießt. Er ist ein italienischer Pepe Carvalho, eine Mischung aus hartem Kerl mit Neigung zu Alkohol, Gewalt und Sex auf der einen Seite und sensiblem Mann auf der anderen Seite, der Literatur studiert hat, gerne Mozart hört und ständig über sein Leben nachdenkt. Morchio erfüllt somit nicht einfach die Gattungsvorgaben, sondern nutzt sie, um die persönlichen Seiten seiner Hauptfigur hervorzukehren. Kommt es einmal zu spannungsgenerierenden Fragen, dann kommentiert der Detektiv lakonisch, dass sie "im Grunde nur überflüssiger Ballast" seien, und scheint damit auszudrücken, was Morchio von der Gattung letztlich hält. Spätestens als sich herausstellt, dass der auf Sardinien vermutete junge Mann nie dort gewesen ist, weiß der Leser, dass der Vermisste bloß ein Hitchcock'scher MacGuffin war, ein Pappkamerad des Plots, der eigentlich bedeutungslos ist. Vielmehr gestaltet Morchio die Lektüre zu einer sinnlichen Erfahrung, um den genius loci Sardiniens spürbar zu machen. Neben Winden und Düften bildet Kulinarisches, darunter die Teigtaschen ("culurgioni"), der Käse ("caglio di capretto") oder das süße Gebäck ("pardula"), die genüsslichen Höhepunkte Sardiniens. Und natürlich darf auch die "pattada", das sardische Klappmesser, als dramatisches Element nicht fehlen. Der gewichtige psychologisierende Anteil des Erzählens dürfte Morchios Beruf geschuldet sein und nimmt in der Beschäftigung mit der Vergangenheit seiner Figur, den Traumdarstellungen und in dem Proust'schen Nexus von Gerüchen und Erinnerung Gestalt an. Dieser schmackhafte Cocktail aus Gattungsgerüst, Sinnlichem und Seelischem macht aus Der Tod verhandelt nicht einen Mittelmeer-Krimi in der Nachfolge des Katalanen Vázquez Montalbán. Dass der Roman so flüssig dahingleitet, ist auch der gelungenen Übersetzung von Sophia Simon zu verdanken, deren elegante und klare Sprache kein geringes Vergnügen an der Lektüre ausmacht. Störend ist allein Morchios Suche nach originellen Vergleichen, die mitunter allzu künstlich geraten, wenn er z. B. nordeuropäische Touristen mit Sonnenbrand "wie glühende Holzscheite" leuchten oder Gedanken "wie Wildschweine in der Macchia" herumlaufen lässt. |