Am Erker 62

'Hyde Park'-Memories

'Die enteignete Poesie'

'Die Wanderbibel'

'Fliegende Wörter' 2012

Links:

'Hyde Park' Club
Harald Keller
Oktoberverlag
Aisthesis
Matthias Kehle
Mario Ludwig
Heyne
Daedalus

 

Rezensionen
Keller/Wolf: 'Hyde Park'-Memories
Michael Esders: Die enteignete Poesie
Kehle/Ludwig: Die Wanderbibel
Fliegende Wörter 2012

 

Was vom Stapel übrig blieb
Joachim Feldmann

Vor vielen, vielen Jahren, als man noch heftig an die Macht des geschriebenen Wortes glaubte, verstand sich diese Zeitschrift als Teil einer so genannten Gegenkultur. Entsprechend gestaltete sich der Vertrieb. Am Erker gab es, außer beim linken Buchhandelskollektiv, in nach Patchouli müffelnden Ladenlokalen, wo man auch Räucherstäbchen, indische Hemden und mexikanischen Silberschmuck erwerben konnte. Den Großteil der Auflage allerdings schlugen die Redakteure selbst bei ausgedehnten Verkaufstouren durch die Diskotheken und Szenelokale in Münster und Umgebung los. Während andere Langhaarige ganz dem hedonistischen Zeitgeist sich ergaben, ging es den Mitgliedern des Erker-Kollektivs ein wenig wie den Klassenkämpfern vom Kommunistischen Bund Westdeutschlands, die bei Wind und Wetter ihr Parteiorgan einem gewöhnlich eher desinteressierten Proletariat andienen mussten. Beladen mit druckfrischen Exemplaren fuhr man samstagabends von Eppings Biercafé in Burgsteinfurt zur Disko 'Albatros' in Rheine-Mesum, um schließlich zu später Stunde im Osnabrücker 'Hyde Park' die Tour zu beenden. An diese langen Nächte im Dienste der Alternativliteratur musste ich denken, als neulich ein bebildertes Paperback mit dem Titel 'Hyde Park'-Memories auf meinem Schreibtisch landete. Nostalgisch gestimmt und mit viel Herzblut geben ehemalige Gäste, Angestellte und Betreiber dieser einmaligen Mischung aus Disko, Teestube und (ziemlich mäßigem) Restaurant ihre Erinnerungen zum Besten, von der Eröffnung im vormaligen 'Schweizerhaus' an der Rheiner Landstraße im Jahre 1976 über die behördlich verfügte Schließung, die 1983 zu wütenden Protesten führte, und die Neueröffnung in einem Zirkuszelt bis heute. Denn tatsächlich existiert der Laden im Unterschied zum 'Albatros' immer noch, ist allerdings, wie einer der Buchautoren meint, nur noch "ein Club unter zahlreichen anderen im Stadtgebiet". Am-Erker-Verkaufstouren finden glücklicherweise schon lange nicht mehr statt. Wahrscheinlich würde der Versuch, heutigen Diskogängern eine Literaturzeitschrift anzubieten, auf vollkommenes Unverständnis stoßen. Sehr viel besser war die Lage allerdings auch in den späten siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nicht. Nur wenige der 'Hyde Park'-Gäste, die in dem Erinnerungsband zutreffend als "bis auf wenige Ausnahmen friedlich und meist auch eher unpolitisch, wohl aber gesellschaftskritisch gestimmt" beschrieben werden, ließen sich überreden, eine Mark - dafür gab's schon damals vielleicht gerade ein kleines Bier - für ein paar zusammengeheftete Blätter mit Agit-Prop-Gedichten und experimenteller Prosa auszugeben. 'Hyde Park'-Memories ist übrigens schon in der dritten Auflage, trotz des stolzen Preises von fast 25 Euro.

Dass Literatur durchaus gesellschaftliche Macht besitzt, aber in einem ganz anderen Sinn, als es uns damals vorschwebte, zeigt Michael Esders, Am-Erker-Lesern als Verfasser von hintersinnigen Kurzgeschichten und klugen Rezensionen bekannt, in seinem Essaybändchen Die enteignete Poesie. Was wir gerne das 'Establishment' nannten, hat sich längst mittels seiner Agenten der Literatur bemächtigt. Geschichten helfen, Waren und Personen zu verkaufen. Dramatische Entwürfe dienen als Vorlage für die Manipulation der Öffentlichkeit. Und dass die Lyrik ein inniges Verhältnis zur Werbung unterhält, wissen wir, seit sich Autoren wie Bertolt Brecht oder Frank Wedekind als Texter versuchten. Esders argumentiert scharf, luzide und konkret. Und plädiert in seinem Abschlusskapitel für eine Literatur, die sich formal und inhaltlich auf ihr widerständiges Potenzial besinnt. Doch dafür müsse sie immer wieder "die eigenen Grundlagen in Frage stellen". Das ist zweifellos erheblich besser gedacht als die doch ziemlich naive Idee einer Alternativkultur, von der wir in den siebziger Jahren beseelt waren. Denn deren lukrative Elemente wurden innerhalb kürzester Zeit vom Mainstream erfasst. Spätestens als ein Großverlag Taschenbücher mit Selbsterfahrungslyrik auf graues 'Umweltschutzpapier' druckte, konnte es jeder erkennen.

Zur Alternativkultur gehört, seit sich Kohlrabiapostel und andere Anhänger des so genannten Natürlichen vor über hundert Jahren zu Lebensgemeinschaften zusammenschlossen, auch eine gewisse Textilfeindlichkeit. Man lief gerne nackt herum, ob um 1900 in Ascona oder 1979 beim 'Umsonst-und-draußen'-Festival im ostwestfälischen Vlotho. Und noch heute begibt sich manch einer, von welchem Geist auch immer beseelt, gerne ohne Bekleidung auf Wanderschaft, wie sich der Wander-Bibel, einem ebenso hilfreichen wie amüsanten und erfahrungsgesättigten Kompendium, das Am-Erker-Autor Matthias Kehle zusammen mit Mario Ludwig verfasst hat, entnehmen lässt. Ganz textilfrei trifft man die Nacktwanderer übrigens selten, zumindest auf festes Schuhwerk und Socken mag kaum einer von ihnen verzichten. Im Gegensatz zu den Barfußwanderern, die "nicht in klobigen Käfigen aus Leder, Gummi oder gar Plastik durch die Landschaft stiefeln" mögen. Uns Spät-Hippies aus der Provinz war das Wandern übrigens gänzlich fremd. Jahrelang hatte man uns an Sonntagnachmittagen zu Familienspaziergängen im feinen Zwirn genötigt, so dass uns der Sinn - einmal der elterlichen Gewalt entronnen - danach stand, im eigenen VW-Käfer bei voll aufgedrehter Anlage durch die Gegend zu juckeln.

Damals, als diese Zeitschrift noch jung war, bekamen wir viel Post. Wie heute gab es zu unserem Leidwesen erheblich mehr Manuskripteinsendungen als Heftbestellungen. Von all den Abo-Karten, die wir unter die Leute brachten, fanden nur wenige ausgefüllt den Weg zurück an die Redaktion. Stattdessen brachte der Postbote fast täglich prall gefüllte A-4-Umschläge zum Dahlweg 64. Hatte der Einsender Rückporto beigelegt, kriegte er all seine Fotokopien zurück. Falls nicht, schickten wir ihm eine Postkarte, in der wir ihn höflich darüber aufklärten, dass wir seine Gedichte, Geschichten oder Dramenentwürfe leider nicht veröffentlichen könnten. Gerne bedienten wir uns dabei des formidablen Lyrikkalenders Fliegende Wörter, der vor achtzehn Jahren erstmals im Daedalus Verlag erschien, ließ sich doch jedes Kalenderblatt mit wenigen Schnitten in eine schmucke Postkarte verwandeln. Heute, in den Zeiten elektronischer Kommunikation, residieren die Fliegenden Wörter jedem profanen Zweck enthoben gut sichtbar auf einem Regal im Redaktionsbüro und erfreuen uns im Wochenrhythmus mit lyrischen Überraschungen, damit uns die Arbeit im digitalen Prosabergwerk nicht allzu schwer wird. Und manchmal flackert er zu solchen Gelegenheiten wieder auf, der alte Glaube an die Macht des Wortes.

 

Harald Keller und Reiner Wolf (Hrsg.): 'Hyde Park'-Memories. Ein Osnabrücker Musikclub und seine Geschichte(n). 240 Seiten. Oktober. Münster 2011. € 24,90.

Michael Esders: Die enteignete Poesie. Wie Medien, Marketing und PR die Literatur ausbeuten. 118 Seiten. Aisthesis. Bielefeld 2011. € 14,50.

Matthias Kehle und Mario Ludwig: Die Wanderbibel. Alles über Bergwandern, Weitwandern, Nacktwandern und Stadtwandern. 256 Seiten. Heyne. München 2011. € 10,00.

Andrea Grewe, Hiltrud Herbst, Doris Mendlewitsch (Hrsg.): Fliegende Wörter 2012. Postkartenkalender. Daedalus. Münster 2011. € 15,90.