Von Schneebier und Fischreihern
Andreas Heckmann
Rückt sie erneut herauf, die Zeit der Troubadoure?
Man ist geneigt, daran zu glauben, wenn man zwei edel gestaltete,
in einer Auflage von nur jeweils dreihundert Exemplaren gedruckte
Vorträge von Thomas Rosenlöcher in Händen hält,
die im Verlag Ulrich Keicher in Warmbronn erschienen sind. Der
Dresdner Dichter war als Reisender in Sachen Poesie unterwegs
und hat 2001 in Freiburg in "freiem mündlichem Vortrag"
das Gedicht "Der Tisch" von Karl Mickel interpretiert,
nicht aus dem Stegreif zwar, aber ausdrücklich ohne Notizen.
Und drei Jahre später ist er durchs Land gezogen und hat
zu Mörikes 200. Geburtstag "an verschiedenen Orten"
einen Vortrag über den schwäbischen Dichter gehalten.
Während Uwe Tellkamp wie Narziss in den Turm seines 972-seitigen
Romantrumms über Dresden gestiegen ist, reist sein Kollege
Rosenlöcher wie Goldmund im Mittelalter durch die Landschaften
des Heiligen Römischen Reichs und spricht über Poesie.
Romantisches Deutschland!
Rosenlöcher besitzt die große Gabe, über Literatur
mit augenzwinkerndem Ernst zu sprechen. Er holt sein Publikum
zwar nicht dort ab, wo es steht (er ist ja Dichter, kein Busunternehmer),
doch er begegnet ihm auf Rufweite und hat es im Handumdrehen so
weit, dass es - Schuhe und Strümpfe in der Linken - mit hochgekrempelten
Hosenbeinen durch den Bach watet, der die Poesie vom Leben trennt.
Wie er das tut? Indem er aus den Gedichten spricht, also nicht
pädagogisch zu den Texten hinführt, sondern aus deren
Mitte operiert. Und damit dies nicht in den salbungsvollen exegetischen
Alleingängen der werkimmanenten Interpretation endet, erdet
er die Gedichte in dem Alltag, aus dem sie erwachsen sind, in
Mörikes oder Mickels Leben. Und er setzt sie in nur vordergründig
abschweifenden Exkursen zu sich - dem Statthalter Robert Walsers
auf Erden - in Beziehung, spricht etwa davon, dass er als junger
NVA-Soldat ein "ins Leere dampfendes Rohr" bei Eisenhüttenstadt
bewachen musste, dabei Mörike in einer NS-Feldpostausgabe
mit geschwärzten Hakenkreuzen las und sich dadurch schweren
Ärger einhandelte; berichtet davon, wie es ist, mit 160 km/h
auf der Autobahn an Cleversulzbach und den Gräbern von Schillers
wie Mörikes Mutter vorbeizurasen und sich dabei wie nie zuvor
in Cleversulzbach angekommen zu spüren; interpretiert auf
sehr intime, mit dem Text trotz skurriler Distanznahmen (es ist
von P1, P2, P3 sowie t1 und t2 die Rede) völlig verschmelzender
und sogartig zu Herzen gehender Weise das Gedicht "Denk es,
o Seele", in dem "unter dem Leichthingesagten der Schmerz
wohnt, als hätte es Mozart selbst komponiert".
Rosenlöchers hoch entwickelte Gabe, vom Feld der Poesie aus
und doch voller Selbstironie zu sprechen, befähigt ihn nicht
nur dazu, das Publikum seiner Vorträge spätestens mit
dem dritten Satz zu gewinnen und es erst mit dem letzten Satz
beglückt wieder in die Welt zu entlassen, sondern sie kommt
auch seinen Gedichten zugute, die oft von Gärten (nicht nur
dem von Kleinzschachwitz) oder von Spaziergängen handeln,
auf denen dem Dichter manche Vision, manch merkwürdige Gestalt
begegnet, ohne dass das Beschriebene dem Leser je auf die unbedingte
Tour zu Leibe rückt, da Rosenlöcher alles Feierliche
als sein eigener Picaro bricht. Die Erhabenheitsunverdächtigkeit
seiner nicht selten vollkommenen Gedichte gehört zu den schönsten
Leseerfahrungen, die die Gegenwartsliteratur bereithält und
für die als Beispiel das an der Pillnitzer Fähre angesiedelte
Gedicht "Schneebier" stehen mag: "Der Ausschank
war geöffnet in das Dunkel / und leuchtete warm in den tiefen
/ von ferner Kindheit überglänzten Schnee. / Da ich
mein Bier vom Brett nahm. Unten ging / riesig die Elbe, endlich
als ein Strom / in Richtung Nacht. Und weit hinaus das Eis, /
fast bis zur Mitte, wo, da sonst der Weg hinführte, / bei
einer Bank vom Winter überwältigt / und einer Schar
von schwarzen Stangen / an der Anlegestelle regungslos / die Fähre
lag mit ausgelöschten Lichtern. / Eisschollen knirschten
lautlos aneinander. / Gurgelnde Schwärze löschte alles
Weiß, / und doch ganz draußen noch unwirklich wahr
/ ein Winterschwan einwärtsgebogenen Halses. / Kein Motor
wagte sich durch diese Stille. / Indes in mich eiskalte Biere
rannen / und ringsher um die Lampe Schneegeriesel / aus meinem
Mund ans Holz des Ausschanks glitzernd / vorstöberte. Ich
trank und trank und trank."
Dieses und weitere einundfünfzig, überwiegend zwischen
1998 und 2001 erstveröffentlichte Gedichte sind 2007 im Insel-Büchlein
Das Flockenkarussell erschienen - begleitet von dem leichten
und doch schwermütigen Essay "Engel hab ich mir abgewöhnt",
einem Requiem auf den Garten von Kleinzschachwitz mit seinem schräg
stehenden und doch so tapfer blühenden Apfelbaum, der beim
durch die neuen Besitzverhältnisse nach der Wende erzwungenen
Umzug aus dem Elbtalparadies ins Osterzgebirge mitgereist ist.
Rosenlöcher führt in diesem Text über das Abschiednehmen
eine ganze Reihe seiner Gedichte in einer Selbstinterpretation
zusammen, über der womöglich auch "Denk es, o Seele"
hätte stehen können.
Wer etwas Neues ausprobieren will, tut mitunter gut daran, eine
neue Bühne zu betreten oder sich eine kleine Werkstatt zu
suchen, in der befreundete Künstler mit Leidenschaft und
fast noch jugendfrischem Überschwang agieren. Wenn's gut
läuft, kann dann auch ein etablierter Lyriker die literarische
Bühne noch mal gleichsam durch die Seitentür - abseits
jeglichen Betriebs, der die Lyrik seit einiger Zeit ungut umschwirrt
- betreten.
Andreas Altmann scheint dies in Gemälde mit Fischreiher
getan zu haben, einem Lyrikheft, das in der 1998 gegründeten
Sonnenberg-Presse Chemnitz im Handpressendruck erschienen ist
und Gedichte versammelt, die ihn zwar wiederum als Augenmenschen
und melancholischen Spaziergänger ausweisen, aber neue Töne
anschlagen, ja Neuland betreten. Manchmal mochten sich ihm in
den letzten Jahren seine Natureindrücke bewahrend verfremdenden
Bilder und die in ihnen kristallisierten Aporien fast zu selbstverständlich
eingestellt haben, sodass mir seine Wahrnehmungen mitunter in
allzu steile lyrische Bilder übersetzt schienen.
In Gemälde mit Fischreiher freilich hat Altmann zu
einer Unmittelbarkeit des Blicks (zurück)gefunden, mit der
ich so nicht gerechnet hatte, die mich beglückt und die eine
neue Schaffensperiode markiert, in der die Verfremdung aus den
Bildern selbst, also aus deren sprachlicher Fassung, hervorgeht,
ohne dass der Lyriker als deutende Instanz mehr als nur schattenhaft
in Erscheinung träte. "das lichtskelett geht durch die
bäume. / und über dem wiesensee dröhnen die entenflüge.
/ sie landen laut und ungesehen. der morgen / hat seine fäden
über den plattenweg gezogen, / der sich von dorf zu dorf
windet. die nahen wurzeln / heben seine schwachen stellen. hauchdünn
/ das rauschen dieser wälderküsten", heißt
es beispielsweise in "das lichtskelett". Und wie ein
lyrischer Gruß an die verzauberte Welt von Henning Ahrens'
Roman Lauf Jäger lauf scheint mir dieser Gedichtanfang:
"ein fischreiher steht auf einer tot / holzinsel im teich
unter den regengeräuschen / der pappeln als wäre er
aus stein. der himmel / ist einsilbig blau. an unsichtbaren bändern
/ sind die töne der vögel aufgefädelt. sie singen
/ zwischen den hohen bäumen, bleiben hängen, / reißen
sich los".
Gewiss, das in einer Auflage von bloß zweihundert Exemplaren
gedruckte, in der Reihe LyrikHeft erschienene bibliophile
Bändchen mit Holzschnitten von Bettina Haller enthält
nur zehn Gedichte von Altmann, aber einige davon gehören
zu seinen schönsten, weil die Unmittelbarkeit der Wahrnehmung
unbeschadet, ja womöglich rein durch die Vermittlungsinstanz
der Worte gegangen ist, die hier nicht Filter sind, sondern als
bloßes Transformationsmedium wirken und das Gesehene und
Gehörte mit all seinen Konnotationen ganz selbstverständlich
aufs Papier bannen, wie auch dieses Beispiel zeigt: "im lichtflimmern
des sommers hält / der staub die wege in der schwebe. das
ferne / geräusch eines traktors. die nie schweigenden / schafe.
das spritzende holz im sägewerk".
Nein, die Schafe schweigen nie, aber um das zu erkennen, habe
ich nach Hiddensee fahren und unter dem umlaufenden Licht des
Leuchtturms auf dem Dornbusch im Pappelrauschen durch die Mondnacht
streifen müssen. Einige Gedichte dieses Bandes, am deutlichsten
vielleicht "die stürme kommen aus dem norden",
scheinen mir wenn nicht an der Ostsee entstanden, so doch dem
dortigen spiritus loci innig verbunden. Aber ich mag mich täuschen.
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