Geschichte einer Fliegerin
Georg Deggerich
Bereits in Am Beispiel meines Bruders,
der biographischen Annäherung an seinen 1943 an der Ostfront
gefallenen Bruder, hat Uwe Timm gezeigt, wie man aus spärlichem
Material ein dichtes, bewegendes Buch machen kann. Auch für
seinen neuen Roman über die Flugpionierin Marga von Etzdorf
war die Faktenlage äußerst dürftig. 1907 geboren,
mit neunzehn Jahren Ausbildung zur Pilotin, Alleinflüge zu
den Kanarischen Inseln und nach Japan, am 28. Mai 1933 Selbstmord
nach einer Zwischenlandung in Syrien auf dem Weg nach Australien.
Beerdigt auf dem Invalidenfriedhof in Berlin, unter lauter preußischen,
reichsdeutschen und nationalsozialistischen Kriegsgrößen.
Ihr Tod bis heute ein Rätsel.
Timm gibt nicht vor, das Rätsel zu lösen, aber er erzählt,
wie es gewesen sein könnte. Im Zentrum des Romans steht die
fiktive Begegnung Marga von Etzdorfs mit dem deutschen Diplomaten
Christian von Dahlem in Hiroshima, wo sie im August 1931 auf ihrem
spektakulären Flug nach Tokio zwischenlandet. Da alle Hotels
der Stadt belegt sind, bietet ihr Dahlem sein Zimmer zur Übernachtung
an, züchtig getrennt durch eine breite Stoffbahn. In der
Nacht erzählen beide einander ihr Leben, sprechen ohne Scheu
von ihren Ängsten und erotischen Abenteuern. Die Pilotin
verliebt sich in den weltläufigen Dahlem, doch der reagiert
ausweichend, hält sie auf Distanz. Zuletzt gibt sie auf und
fliegt zurück nach Europa. Beim Start in Bangkok stürzt
sie aus 80 Metern Höhe ab, überlebt wie durch ein Wunder.
Ihren Traum vom Fliegen aber gibt sie nicht auf. Sie plant einen
Langstreckenflug nach Australien, hält Vorträge und
sucht verzweifelt nach einem Geldgeber für eine neue Maschine.
Da kommt Dahlem ihr zu Hilfe. Er vermittelt ihr den Kontakt zur
deutschen Rüstungsindustrie und damit auch zur neuen nationalsozialistischen
Regierung. Mit einem Mal fliegt Marga von Etzdorf für Deutschland,
ist "Teil der nationalen Erhebung" unter direkter Aufsicht
Görings. Während sie sich selbst einredet, Botschafterin
eines friedlichen Deutschlands zu sein, haben die neuen Machthaber
sie längst für illegale Waffengeschäfte und Spionage
eingeplant. Im Mai 1933 startet sie zu ihrem Flug nach Australien,
an Bord eine Maschinenpistole, die sie bei einer Zwischenlandung
in Syrien als Muster vorlegen soll. Doch die "Pechmarie unter
den Fliegerinnen" leistet sich erneut eine Bruchlandung.
Noch am gleichen Tag erschießt sie sich auf dem Flughafen
von Aleppo.
Im Buch bleibt offen, ob das Motiv ihrer Tat in unerwiderter Liebe,
der Scham über ihren ruinierten Ruf als Fliegerin oder dem
verzweifelten Versuch zu sehen ist, sich gewaltsam aus den Fängen
der Nazis zu befreien. Zumindest deutet Uwe Timm diese letzte
Möglichkeit an, wenn er Marga von Etzdorf sagen lässt,
"der Gedanke von Kampf und Töten im Zusammenhang mit
der Fliegerei" habe sie schon immer gestört und "die
Bilder von den brennenden, abstürzenden Maschinen" seien
ihr "zutiefst verhasst". Für den Romancier wäre
es ein Leichtes gewesen, Marga von Etzdorf post festum in eine
deutsche Widerstandskämpferin zu verwandeln. Statt Vereindeutigung
geht es dem Autor aber gerade darum, die Figur in dem Halbschatten
zu belassen, in dem die Vergangenheit uns entgegentritt. Dazu
hat Timm die Stimme des Erzählers aufgelöst in einen
vielstimmigen Chor der Toten auf dem Invalidenfriedhof, die einander
ins Wort fallen, sich ergänzen und sich gegenseitig widersprechen.
So entsteht ein historisches Panorama, das zwangsläufig in
viele einzelne Mosaiksteinchen zerfällt. "Mutmaßungen,
nichts weiter", heißt es gegen Ende des Buchs kategorisch.
Anders, so Uwe Timms Botschaft, lässt sich die Vergangenheit
nicht erzählen.
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