Polnische Reportagen aus Tschechien
Anna Serafin
Mariusz Szczygiel (*1966), einer der bekanntesten
polnischen Journalisten, hat sich seit den frühen neunziger
Jahren mit Reportagen für die Gazeta Wyborcza, Polens
große linksliberale Tageszeitung, einen Namen gemacht. Seit
2002 lebt er nicht nur in Warschau, sondern auch in Prag, und
gerade Tschechien wurde zum Gegenstand seiner Reportagen, die
den Polen den seltsam fremden Nachbarn im Südwesten nähergebracht
haben.
In der Reportage Der Liebesbeweis geht es um das größte
Stalin-Denkmal der Welt, das erst 1955 am Prager Moldauufer errichtet
und schon 1962 wieder "würdevoll abgerissen" wurde
und weitgehend aus der Erinnerung der Tschechen verschwunden ist.
Szczygiel erzählt die aberwitzige Projektierungsphase dieses
tristen Heldendenkmals seit Ende der vierziger Jahre und das Schicksal
des Bildhauers, der das Unglück hatte, den Wettbewerb zu
gewinnen, und in ein unendliches Tauziehen unterschiedlicher Interessengruppen
geriet, die ihm immer aufs Neue (und unbeeindruckt von Stalins
Tod) vorschreiben wollten, wie das Denkmal auszusehen habe, bis
der um jedes Konzept und jede klare Linie gebrachte Künstler
zwei Monate vor der Enthüllung des Monstrums Selbstmord beging
- angeblich, weil es so ausgesehen habe, als greife eine der prominenten
Nebenfiguren des Denkmals, eine Arbeitsaktivistin, dem nachfolgenden
Rotarmisten an die Kleinodien. In dieser Reportage gelingt es
Szczygiel, die für viele Polen kaum nachvollziehbare, fast
sklavische Bündnistreue der Tschechen zur Sowjetunion bis
Mitte der sechziger Jahre an einem Beispiel darzustellen.
In der Reportage "Kein Schritt ohne Bata" erzählt
Szczygiel die Geschichte des tschechischen Schuhimperiums vom
Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart, wobei der Schwerpunkt
auf den zwanziger bis vierziger Jahren liegt, als erst Tomas,
dann Jan Bata " knallharte Kapitalisten mit autoritärem
Menschen- und Gesellschaftsbild, die ihre Mitarbeiter in die Schraubzwinge
patriarchaler Fürsorge spannten - ihre Schuhe weltweit zu
exportieren begannen und angesichts der europäischen Entwicklungen
bald auch Werke in Brasilien und Kanada eröffneten, nach
1945 freilich (der Kollaboration bezichtigt) fliehen mussten.
"Nur eine Frau", eine der interessantesten Reportagen,
handelt von Lida Baarova (1914- 2000). Die Lebensgeschichte des
tschechischen UFA-Stars, der jahrelang die Geliebte von Joseph
Goebbels war, löst bei vielen Polen ambivalente Gefühle
aus, zeigt sie ihrer Ansicht nach doch nicht nur die Fähigkeit
der Tschechen, sich mit den deutschen Besatzern auf eine Weise
zu arrangieren, die es ihnen ermöglichte, ihre nationale
Integrität weitgehend zu behaupten, sondern auch ihre Bereitschaft,
als Slawen erster Klasse mit den Besatzern zu kollaborieren -
eine Möglichkeit, die den im Generalplan Ost zu Arbeitssklaven
ausersehenen Polen weitgehend versagt war. Szczygiel aber zerstört
diesen verbreiteten polnischen Mythos, indem er beschreibt, wie
sehr auch die vorgeblich privilegierten Tschechen unter der Besatzung
zu leiden hatten. Selbst der seit den fünfziger Jahren in
Salzburg lebenden Baarova konnte übrigens vom kommunistischen
Regime kein Landesverrat nachgewiesen werden. Von Vorurteilen
auszugehen, dann aber unbekannte Seiten des Nachbarlandes Tschechien
zu beschreiben, hat Szczygiels Reportagen für viele Polen
so spannend gemacht und zahlreiche Diskussionen ausgelöst,
doch auch für deutsche Leser sind seine Texte ein Gewinn,
denn sie zeigen ein Tschechien jenseits von Steinerner Brücke
und Hradschin, jenseits von Smetanas Moldau und Kafkas Prozess,
jenseits der Kunstkammern von Rudolf II. und der Laterna Magica,
jenseits des Prager Frühlings und seines politischen Helden
Alexander Dubcek.
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