Lese ohne Wein
Kuno Päffkes
"Schwarze Johannisbeeren", philosophierte
Zülle, "Heidelbeeren und ein wenig Schokolade."
Ich nahm einen Schluck aus meinem Glas, ließ den Wein mehrmals
im Gaumen rollen, spürte den genannten Geschmäckern
nach
und konnte sie nicht finden. Es schmeckte wie roter,
vergorener Traubensaft mit einem Touch Holz. Das sagte ich auch
und, es wurde mucksmäuschenstill in Zülles Weinschenke
'Drachenklause. Im Nachhinein kann ich dankbar sein, dass
ich nur für den Abend rausflog und kein generelles Hausverbot
bekam. Der Wein war ein 2004er Cabernet Crianza von der Bodega
Piedemonte aus Navarra, einer der höchstbewerteten Weinschmieden
Spaniens. Sagte Zülle. Oder besser: Er brüllte und fauchte
und fuchtelte mit einem Korkenzieher wenige Zentimeter vor meinem
Gesicht, bis ich Sara Gruens dritten Roman auf der Theke vor mir
griff und - ungewohnt nüchtern - nach Hause flüchtete.
So etwas passiert mir nicht noch einmal, ich schließe mich
ab sofort jeder Mehrheitsmeinung an. Ich finde daher meine Nachmittagslektüre
Wasser für die Elefanten grandios, wie all die Hunderttausende
rechtschaffener Käufer in den Vereinigten Staaten, die den
Roman auf Platz fünf der dortigen Bestsellerliste gehievt
haben. Ich bekenne schuldbewusst, mich verrannt zu haben in dem
Glauben, es wäre eine kitschige Liebesstory mit schmalztriefendem
Ende sowie einer ebenso trübsinnigen wie belanglosen Parallelhandlung.
Es war obendrein ein Fehler, über den Schauplatz zu spotten,
wie konnte ich glauben, ein Zirkus wäre für eine Alltagsausbrecherstory
etwa so altbacken wie Tirol für eine Liebesgeschichte. Eindeutig
habe ich übersehen, dass Gruens Roman nur so sprüht
von schrägen, spaßigen, traurigen, ehrlichen, dramatischen,
erschütternden und obendrein realistischen, da akribisch
recherchierten Details über die Welt der Wanderzirkusse in
den dreißiger Jahren in den USA. Was für eine Verkettung
von Fehlern. Und dann übersah ich auch noch die geschmeidige
Fülle, die eleganten Tannine und den langen Abgang des Piedemonte
Cabernet. Zu Hause stellte ich mich eine Stunde in die Ecke, guckte
reumütig die Wand an und beschloss, zur Buße je drei
Bücher von Paulo Coelho und Anselm Grün zu lesen. In
der Nacht habe ich sehr schlecht geschlafen.
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