Bilanzen im Jahrzehnteabstand
Gerd Oberembt
Manchmal gleicht die Kaiserstraße
ja der Lindenstraße, der Fortsetzungssoap der Studios.
Die Personen reden über den jeweils neuen Tratsch: über
Rosemarie Nitribitts Ermordung, später über den Tod
des Benno Ohnesorg oder über die Schleyer-Entführung.
Zeitung, Radio oder Fernsehen beteiligen sich an der Aktualitätenzufuhr.
So geht es weiter und mit weithin vergessenen Zeitzitaten bis
zur deutschen Vereinigung und zur Milleniumsfeier: Das Lesewerk
schreitet als bundesrepublikanische Chronik in ungefähren
Jahrzehnteschritten voran, schildert parallel zu den Querschnitten
das unspektakuläre Schicksal der Familie Böwe. Jenseits
der Datenfülle und -überfülle aber bleibt die zu
Nachruhm gekommene Lebedame Nitribitt das große Menetekel
für Vater und Tochter. Beide suchen zum Romanende hin, ohne
voneinander zu wissen, nach ihren Resten und Spuren, besuchen
parallel den Asservatenraum der Frankfurter Polizei und die ehemalige
Wohnung in der Kaiserstraße. Sie recherchieren, wie es die
Autorin ihnen vorgemacht hat.
Die Parallelität des Nebeneinanderlaufens und Sich-nicht-Treffens
ist das Konstruktionsmuster, und das Leben der Prostituierten
gibt ein Prägemuster ab, das die Autorin Judith Kuckart -
kurioserweise - durch die Namensgleichheit der Adressen nahe bei
Wuppertal und den Vornamen der langjährigen Freundin des
Vaters pointiert. Zunehmend leidet Böwe an einem Nitribitt-Komplex,
nachdem er auf der Frankfurter Liebesmeile von einem Fremden und,
wie er meint, von ihrem Mörder auf das ihm unbekannte Callgirl
angesprochen wird. In der Mainstadt hatte der gerade mal 22-jährige
Waschmaschinenvertreter, mit einem Brustbeutel am Leib, den Kollegen
ihre Provisionen ausgehändigt. In prägnanten Szenen
und präzisen Strichen ist der Optimismus des Aufbruchs aus
bescheidenen Verhältnissen gezeichnet, der Erlebnishunger
etwa, der die ausgezahlten Vertreter nach Baden-Baden treibt.
Kontrastierend dazu steht die Erinnerung des kleinen Böwe
an eben die Kurstadt und an das Mädchen Schneewittchen, das
mit der Abreise "unerreichbar" blieb. "Alles, was
jetzt noch kommen und sich Liebe nennen sollte, würde ihm
wie ein Nachspiel vorkommen." So taucht Kuckart, im Gegenüber
der Abschnitte, in die Vergangenheit und die Vergeblichkeit ab.
Doch Böwe, Vorname Leo, entwickelt sich zum Selfmademan,
Packards Die geheimen Verführer wird ihm zur Bibel,
mit der er Herzen und Portemonnaies öffnet. Kurz vor dem
Abitur hat er die Schule verlassen, weil ihn ein Lehrer gekränkt
hat. Der gewitzte Schulabbrecher, schon früh mit der hübschen,
bald langweiligen Liz verheiratet, bringt es mit seiner Hemdsärmeligkeit
zu einer CDU-Karriere und zu einem NRW-Landtagsmandat. Er ist
ein Blender, der ebenso seine Ware wie sich selbst verkaufen kann.
Sogar seine Biographie will er im Rentenalter vermarkten.
Noch sonnt sich Deutschland im Wirtschaftswunderglanz, da wird
ihm das einzige Kind geboren. Mit sieben Jahren kommentiert Jule
die Fernsehnachricht, Ohnesorg sei von einem Polizisten erschossen
worden, mit den Worten: "Papi, wenn ich groß bin, erschieß
ich dich auch." Fremdheit wird herrschen zwischen den beiden,
und wenn sie sich irgendwo am gleichen Ort befinden, gehen sie
sich aus dem Weg. Je mehr sich das Buch der Tochter zuwendet,
die den Beruf als Tänzerin gesundheitshalber aufgeben muss
und dann zur Führungskraft in einem Konzern aufsteigt, desto
mehr verliert Böwe, der heimliche Casanova, mindestens das
Interesse, wenn nicht gar, was zu bedauern ist, die Sympathie
der Autorin. Sein sukzessives Doppelleben fällt in Parteikreisen
auf, missfällt so sehr, dass er sein Mandat verliert.
Böwe fühlt sich "gescheitert". Er hat viel
verkauft und ist doch nicht auf seine Kosten gekommen. Und wie
der Vater hat Jule nur als Kind das Glück der Symbiose gespürt.
In ihren breit, zu breit ausgeleuchteten Beziehungskisten gelingt
nichts: Nicht einmal großjährig hat sie ihre erste
Erfahrung, und die Neugier wird sie zu erotischen Abenteuern verführen.
Mit dem Defizit aus Leere und Einsamkeit, das sich am Ende zeigt,
ist die Moral aus der Geschichte benannt.
Gelegentlich kreuzen erkennbare Personen der Zeitgeschichte die
Wege der Böwes, im Ablauf der großen Skandale und Sensationen.
Auf dem Hintergrund des jungen Bonner Staates, vielleicht auch
noch der unruhigen Wendejahre, ist vor allem der Mann Böwe
als Repräsentant gelungen. So extravagant die Konstruktion
bisweilen ist, die innere Aussage und die äußere epische
Anlage durchdringen sich. So ist Judith Kuckart zwar nicht der
bundesrepublikanische Zeitroman gelungen, den sie im Sinn gehabt
haben mag, aber ein lebenskluges Buch über den Menschen in
den Spannungen der Zeit ist Kaiserstraße allemal.
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