Der Flügel des Engels, zerbrochen
Olaf Velte
Mit dem ersten Satz beginnen. "Wie notwendig
es ist, hier zu sein." Ein merkwürdiger und großartiger
Satz, einer, der schon ein Geheimnis verspricht und die Tür
öffnet. Damit wird der "1. Brief" dieses Buches
eingeleitet, zwölf weitere werden folgen. Im Wechsel dazu
stehen Berichte über die Geschehnisse in Remas Haus. Es ist
ein Dichter, der sich mit diesen Briefen der Außenwelt mitteilt,
er lebt in einem hochgelegenen Zimmer, welches er nicht mehr verlassen
kann. Die Außenwelt sind wir, die Leser. Ausgehändigt
bekommen wir die Schriftstücke von verluderten Schlampen,
die den Dichter für diese Dienste büßen lassen:
Auf ihr Geheiß müssen die Briefe verändert werden,
die Übermittler wollen geleckt und befriedigt werden. (Wer
denkt da nicht an das würdelose Gebaren des herrschenden
Literaturbetriebs?) Das einzige Fenster des Raumes ermöglicht
eine Aussicht: "Ich sehe, was ich sehen muss: Remas Haus,
das weiter unten in der Ebene liegt, abseits von den anderen
.".
Diesem Ort gilt die Sehnsucht, und das Buch folgt einer Obsession,
die sich immer monströser entfaltet. Das Haus besteht aus
Gesinde- und Herrenhaus sowie dem Stalltrakt - "der Hof selbst
ist die Dreifaltigkeit". Hier soll Rema wohnen. Alles scheint
aufgeweicht von dem nie versiegenden Milchfluss, der in der Milchküche
verarbeitet wird. Ein Milchkoch ist unablässig mit dem Kampf
gegen die Unreinheit beschäftigt.
Es ist ein surrealer Ort, ein Trugbild. Von Beginn an herrscht
eine bedrohliche Atmosphäre - in einer wunderbaren Passage
vergegenwärtigt:
"Dass hier beide leben, Milchkoch und Rema, dass es ausgerechnet
das Gesindehaus ist, in dessen Milchküche sich alles zusammenfügt,
und dass Rema alle drei Gebäude bewohnt, das weiß der
Dichter zu dieser Zeit ebenfalls nicht. Und weil er weder von
dem, was tief im Keller des Hauses vergraben ist, etwas ahnt noch
von dem Zerwürfnis der Dreifaltigkeit, setzt er sich in die
Mitte des Hofes, glaubt, er sei angekommen, und hat einen Traum."
Die Ausdruckskraft von Silke Andrea Schuemmer trägt durch
die 160 Seiten ihres Romans Remas Haus, an keiner Stelle weicht
sie von dem eingeschlagenen Weg ab. Eine faszinierende Geschichte,
eine bestürzende auch. Sie erinnert in ihrer Radikalität
an eine Erzählung, die vor fünfundvierzig Jahren veröffentlicht
wurde: Der Schatten des Körpers des Kutschers von Peter Weiss.
Schauplatz ist ebenfalls ein abgelegener Hof, bevölkert von
schattenhaften Wesen, die ihre Zeit in endlosen Wiederholungen
eingeübter Tätigkeiten verbringen. Auch dort ist die
enge Welt, ständig unter Spannung gehalten, immer kurz vor
dem Untergang. Es sind die alltäglichen Rituale, die beibehalten
werden müssen, um das Bestehen zu sichern. Keiner darf in
das Rad der Ungerechtigkeit eingreifen, weil eine Veränderung
unabsehbare Folgen hätte. Und während bei Peter Weiss
das notwendige Gleichgewicht bis zum Schluss gewahrt bleibt, macht
sich der Dichter in Remas Haus daran, die verborgenen Gesetze
zu überschreiten. Er will seines Phantoms habhaft werden
und gefährdet damit die sensible Ordnung. Remas Hof, und
das wird mit jeder Seite deutlicher, pulsiert wie ein lebender
Organismus.
Silke Andrea Schuemmer führt ihren Dichter ins Reich der
Wahnvorstellungen, woraus es keine Rückkehr gibt: "Es
ist der gebrochene dritte Flügel des Engels, der halb in
der Ebene vergraben von weitem wie ein Haus mit drei Trakten aussah".
Der Weiss`sche Chronist ist dagegen in Zweifeln gefangen: "
.dass
dieses Gesehene und Gehörte allzu nichtig sei um festgehalten
zu werden und dass ich auf diese Weise meine Stunden, meine halbe
Nacht, ja, vielleicht meinen ganzen Tag völlig nutzlos verbringe;
aber dagegen stelle ich folgende Frage, was soll ich sonst tun;
und aus dieser Frage entwickelt sich die Einsicht, dass auch meine
übrigen Tätigkeiten ohne Ergebnisse und Nutzen bleiben.
Mit dem Bleistift die Geschehnisse vor meinen Augen nachzeichnend,
um damit dem Gesehenen eine Kontur zu geben, und das Gesehene
zu verdeutlichen
.".
Beide Bücher verdeutlichen eine Welt, in der Liebe keinen
Platz mehr hat und nur aus der Erinnerung heraufsteigen kann (die
Mutter und die Erd-Zwillinge in Remas Haus sind umglänzt
von einer mythischen Aura). Gefühlskälte ist dort zu
Hause, auch ein ungehemmtes Zweckdenken, dem alles zu Ware und
Währung wird. Hinter Remas Haus formiert sich eine Gesellschaft
funktionierender Automaten, ihre Beton-Bau-Lust bis in die letzten
Naturzipfel treibend. Viele der Bilder, berührend in ihrer
Intensität, wollen gelesen sein: Es ist die ausgezeichnete
Lyrikerin, die hier aus ihren Quellen schöpft.
Nicht unerwähnt darf bleiben, wie gelungen die Verlegerin
Daniela Seel und der Grafiker Andreas Töpfer den Band ausgestattet
haben. Der Einband ergänzt den Inhalt mit anderen Mitteln
- auch hier tanzen die Bilder und weisen über sich hinaus.
Ein gutes Buch: Die poetische Vision darf sich ungehemmt ausbreiten,
meidet rigoros den üblichen literarischen Trampelpfad. Und
wieder stellt sich die Frage, ob es nur die Kraft der dichterischen
Sprache noch vermag, von den wahren Defiziten unserer Welt zu
erzählen. Und ihrer Überwindung.
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