Suizidal
Matthias Kehle
Die großen russischen Dichter waren keine
heiteren Gesellen. Zumindest jene, die in der ersten Hälfte
des letzten Jahrhunderts gelebt hatten. Zu beißen hatten
sie wenig und zu lachen erst recht nichts. Wladimir Majakowski,
Sergej Jessenin und Marina Zwetajewa glückte der Selbstmord;
Ossip Mandelstams, Anna Achmatowas und Nikolaj Gumiljows Suizidversuche
misslangen. Eine mit Amüsement zu lesende Anthologie über
den russischen "Selbstmörder-Zirkus" herauszugeben,
ist ein Kunststück, das Alexander Nitzberg gelungen ist.
Über vierzig Dichter hat er versammelt mit Gedichten, die
sich alle um Tod und Selbstmord drehen. Es sind erwartungsgemäß
düstere Verse, auch wenn "Der Dämon des Suizids...
immer faszinierender" lächelt, "aus Dunkelheit
sein Auge blickt", wie Walerij Brjussow schreibt. Zwischen
Depression und dem Verlangen nach Auslöschung, zwischen dem
Wunsch nach Selbstvernichtung, weil man verschmäht wurde
und expressionistischer Selbstüberhöhung bewegen sich
die großen Dichter wie auch die kleineren Lichter dieser
Zeit. "Die Liebe schwand, da wurde / klarer und näher
mir die Sterblichkeit..." schreibt Wsewolod Knjasew, Konstantin
Waginow notiert: "Die Nachbarn machen Licht ob sie am Ende
/ Nicht glauben an der blauen Tage Tod."
Symbolismus, Futurismus, Imaginismus und Akmeismus hießen
die Schulen, denen die Dichter sich verpflichtet fühlten.
Herausgeber Nitzberg hat ein knappes Vorwort geschrieben, das
dennoch die Zusammenhänge zwischen dem Zeitgeist und dem
"Selbstmörder-Zirkus" enthüllt. Seltsam übrigens,
dass kaum ein Lyriker die politischen Verhältnisse thematisiert.
Nitzberg stellt die Dichter jeweils auf einer halben Seite bis
eineinhalb Seiten vor. Er skizziert weniger deren Lebenslauf,
sondern vielmehr, wer was mit wem zu tun hatte und woher die Autoren
ihre Inspiration bezogen. Ein wahres Ekelpaket etwa muss Brjussow
gewesen sein: "Er war es, der Nadeschda Lwowa, seiner ehemaligen
Geliebten, einen Revolver schenkte und ihr systematisch den Gedanken
an Selbstmord einflößte", schreibt Nitzberg, und
der Leser wartet sehnsüchtig auf die Geschichte der Lwowa
sowie deren Gedichte. Ein wenig reißerisch ist die Anthologie
schon, aber clever gemacht und gut ausgewählt. Übrigens
hat Alexander Nitzberg sämtliche Texte selbst übersetzt.
Auch das ist eine Leistung des gerade mal 35-Jährigen.
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