Antennenspur
Gernot Wolz
Während die ARD dieser Tage das Jubiläum
ihres 50jährigen Sendebetriebs feiert, führt ein kleiner
Roman zurück in die prävisuelle Welt, die Spätgeborenen
geradezu mittelalterlich anmuten muss. Dabei begeben wir uns nur
auf eine kurze Zeitreise in ein schwäbisches Dorf um 1960.
Dort folgt ein zehnjähriger Junge der "Antennenspur"
auf den Dächern, um in fremden Haushalten seiner Sucht nach
den Schwarz-Weiß-Bildern nachzugehen.
Die der Tradition verhafteten Eltern leben nämlich ohne Badezimmer,
Auto und Fernseher, noch schlimmer: Sie argwöhnen, die neue
Lichtquelle brenne dunkle Flecken auf die Seele.
Vergleichsweise einfach ist es für den Fernsehgast, zur magischen
Kiste in fremde Haushalte vorzudringen - das Zeitalter der Schließ-
und Sprechanlagen ist noch nicht angebrochen. Erschwerend sind
die Heimlichkeit und die zu seltenen günstigen Augenblicke
zum Übertreten des elterlichen Verbots.
Das Fernsehen bricht als Symbol der neuen Zeit herein, macht die
alte Dorfgemeinschaft zu einer absterbenden Welt. Ein fremder
Fotograf, der sie verewigen will, bekommt von dem gesuchten Charakterkopf
- es ist der Großvater des Jungen - zu hören: "Bei
uns merkt man sich die Bilder, wir haben sie im Kopf." Hier
hat ein Schriftsteller gründlich recherchiert: Seien es die
technischen Macken des frühen Fernsehens, das Pausen- und
Testbild, das "Hineinregieren" der Fernsehgucker in
den Film oder das "feindselige Knistern", wenn die Bilder
vorzeitig ausgeschaltet durch einen "hellgrauen Schlitz"
verschwanden. Auch die veränderte Wahrnehmung des Kindes
durch das neue Medium ist glaubwürdig gestaltet. Nicht zuletzt
deswegen, weil jedes sprachliche Bild stimmig und von suggestiver
Wirkung ist.
Diese Genauigkeit schließt auch pointierte Sprachbeobachtung
ein. Redewendungen von damals ("in der Weltgeschichte herumfuhrwerken")
werden tiefsinnig reflektiert. So ist dieses Buch auch ohne epischen
Plot kurzweilig zu lesen.
Das Fernsehen wirkt als verknüpfendes Leitmotiv und ist für
den "Bilderhausierer" Ausgangspunkt, die Menschentypen
des Dorfes kennenzulernen. Erschlossen wird eine verschwundene
Alltagswelt mit heute unwiederholbaren Vorkommnissen. Oesterle
ist damit ein Erinnerungsgeflecht von poetischer Eindringlichkeit
gelungen.
Faszinierend getroffen die Charakterisierung der guten Stube,
die - steril, selten genutzt und mit musealen Möbeln vollgestopft
- wie ein Familiengrab wirkte. Erst mit Hilfe des Fernsehens wurde
sie in Besitz genommen und hieß von da an Wohnzimmer.
Die Gespräche am Küchentisch der Eltern kreisen um den
Krieg, der tatsächlich bedrohlich gegenwärtig bleibt.
Eisensplitter wandern im Körper manches Veteranen, bis sie
doch noch die finale Stelle treffen. Oder Granitsplitter im Holz
fliegen dem Vater beim Hantieren an der Kreissäge plötzlich
um die Ohren.
Auch wenn der Fernsehgast nach dem Anschauen einer Serie mal arglos
meint:
"Kein Buch und auch nicht das Leben nötigten einem je
so viel Dankbarkeit ab wie das Fernsehen", so straft er sich
unbewusst doch Lügen. Denn die Wanderung mit seinem Großvater
durch die gestundete Zeit einer fast autofreien Kulturlandschaft
gerät dem Erzähler zu einer Abschiedsliturgie.
Was vermag Literatur denn mehr, als vergangene Stimmungen, abgelegte
Lebensformen, Redensarten, Umwelten - zu klein dem groben Sieb
der Historiographie - für spätere Zeiten zu bewahren?
Und so ist dem 1955 geborenen Autor mit seinem autobiographisch
eingefärbten Fernsehgast in einer Zeit, die Dörfer
zu wuchernden Vorstadtsiedlungen mutieren ließ, noch einmal
ein vielleicht letzter Dorfroman gelungen.
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